Der gute Hirte und die "Mietlinge"

Johannes 10,11-16


 

Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.

Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht - und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.

Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich,

wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.

 

Liebe Gemeinde,

„die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen“, heißt es in einem Gedicht von Christian Morgenstern. Ich will damit keine Frau und kein Mädchen beleidigen, das Emma heißt. Und außerdem geht es heute ja nicht um die kreischenden Meeresvögel, sondern um Schafe. Aber für unsereiner, der sich an einer grasenden Schafherde erfreut, sehen die Tiere alle ziemlich gleich aus. Außer den Kleinen, die so niedlich zwischen den Großen herumhüpfen. Ein Schäfer aber, so habe ich gelernt, kennt bis zu 600 Einzelschafe seiner Herde persönlich. Für ihn sehen sie nicht alle aus, als ob sie Emma hießen. Ich weiß nicht, ob ein Schäfer jedem Schaf einen Namen gibt, wie der Bauer seinen Kühen, wobei die Namen von Mutter, Tochter und Enkelin dann mit dem gleichen Buchstaben anfangen. Aber auch ohne Namen: der Schäfer kennt seine Schafe, ein jedes einzelne, ganz persönlich. Das heißt aber, dass er es nicht nur erkennt, das einzelne in der Masse, sondern auch um seine Eigenheiten weiß: welches mutig vorausspringt und welches immer trödelt, so dass der Schäferhund es antreiben muss; welches dauernd frisst und welches nur ein paar besonders gute Hälmchen abknabbert.

Jesus sagt: Ich bin der gute Hirte und kenne meine Schafe. Er kennt mich. Wie oft kommt das in der Bibel oder auch in Liedern vor – vom Kinderlied „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“: „… kennt auch dich und hat dich lieb“ bis hin zum Gleichnis von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen, wo die letzteren, die zu spät kommen, an die Tür zur Hochzeitsfeier klopfen, aber keiner aufmacht: „ich kenne euch nicht“. Wie wichtig ist es uns oft, dass jemand mich kennt. Nicht nur auf der Straße, dass man grüßt, „Hallo“ oder „Grüß Gott!“ ruft. Der kennt mich nicht, oder gar: der tut so, als ob er mich nicht kennt – da fühlt man sich übersehen, ja missachtet. Da stimmt was nicht. Noch wichtiger ist es, wenn es um besondere und einflussreiche Menschen geht. Da kann es schon gut sein, wenn bei einer Stellenausschreibung der Chef den Bewerber persönlich kennt. Manche Karriere beruht darauf, dass die Entscheider einen kennen. Um wieviel wichtiger ist für uns, dass Gott uns kennt, dass er mich ganz persönlich kennt. So wie es bei der Taufe heißt: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Und da hat zum Glück jeder seinen eigenen Namen, und es heißen nicht alle gleich.

Manchmal sagt man: „Ich kenne meine Pappenheimer“. Vielleicht sagt es die Pfarrerin über ihre Konfirmanden und Konfirmandinnen. Ich kenne meine Pappenheimer. Ich weiß schon, auf wen ich besonders aufpassen muss; wen ich am besten drei Mal erinnern muss, beim nächsten Mal die Bibel mit in den Unterricht zu bringen. Manchmal wäre uns ja lieber, nicht erkannt zu werden – „incognito zu bleiben“, wie man sagt. Wer mich kennt, wer nicht nur meinen Namen weiß und mich auf der Straße wiedererkennt, sondern wer mehr von mir weiß, ja wer vielleicht sogar etwas in mich hineinschauen kann, der kennt eben auch meine Schattenseiten, meine Fehler und Schwächen. Von Jesus heißt es, dass er weiß, was im Menschen ist. Gott kennt auch die geheimsten Gedanken. Was für ein Wunder, dass es dann nicht heißt: „Ich kenne meine Pappenheimer“, sondern: „kennt auch dich und hat dich lieb.“

Der Schäfer kennt seine Schafe, weil es seine eigenen sind. Das Gegenteil von einem guten Hirten ist der „Mietling“, also ein r angeheuerter Hirte, der für einen geringen Stundenlohn die Schafe aus dem Dorf auf die Weide treibt. Wenn es brenzlig wird, läuft der davon. Wenn ein Raubtier kommt, lässt er alles liegen und stehen und sucht sein Heil in der Flucht. Er denkt dann nur noch an sich. Raubtiere wie Löwen und Tiger, Hyänen und Wölfe waren damals eine echte Gefahr. Heute verunsichert sehr selten ein herumstreunender Problembär die friedlich grasende Kuhherde auf der Weide oder ihren Besitzer im Dorf. Aber dass man auf fremdes Eigentum nicht so sorgfältig behandelt wie das eigene, das kommt auch heute oft vor. Um wieviel besser geben die Jugendlichen im Jugendtreff mit der Einrichtung um, wenn sie den Raum selbst eingerichtet haben. Keiner schreibt Graffiti an die Wand, die er selber angemalt hat, oder schneidet die Polster des kuscheligen Sofas auf, das man selbst vom Second hand Laden besorgt hat.

Wer das damals gelesen hat mit dem „Mietling“ und den fremden Schafen, der wusste genau, was gemeint war. Denn der kannte den Propheten Hesekiel und was der über die „schlechten Hirten“ geschrieben hatte. Nicht nur, dass sie bei Gefahr weglaufen und die ihnen anvertraute Herde schmählich im Stich lassen. Der Prophet wirft ihnen vor, dass sie sich daran bereichern; dass sie, statt auf die Schafe aufzupassen, eins nach dem anderen schlachten, ihnen das Fell abziehen, die Wolle verkaufen und das Fleisch für sich braten. Wer kann schon überprüfen, ob es stimmt, dass der Wolf das Schaf geholt und aufgefressen hat. Der Prophet spricht die Verantwortlichen in Kirche und Staat als Hirten an. In Norddeutschland, in Freikirchen und woanders heißen die Pfarrer Pastoren und die Pfarrerinnen Pastorinnen (allerdings sind in Spanien „pastores allemands“ keine deutschen Pastoren. So stellte ein Pfarrkollege seine Reisegruppe vor: wir sind eine Gruppe von „pastores alemans“ und erntete großes Gelächter. Denn das heißt im Spanischern: deutsche Schäferhunde). Den Verantwortlichen in Kirche und Staat, den Politikern und Unternehmern, den Ärzten und Zeitungsredakteuren, den Pfarrern und Erzieherinnen sind Menschen anvertraut wie die Schafe den angeheuerten Hirten. Sie gehören ihnen nicht. Sie sind nicht ihr Eigentum, sie sind nur anvertraut. Der Prophet warnt davor, diese Stellung zu missbrauchen und seinen eigenen Vorteil herauszuziehen. Das muss nicht nur ein materieller Vorteil sein, dass jemand seine Stellung missbraucht, um sich selbst zu bereichern. Es gibt so viele Möglichkeiten, dieses Vertrauen zu missbrauchen. Denn auch der angeheuerte Hirte hat eine enorme Vertrauensstellung inne. Die Besitzer der Schafe vertrauen ihnen ihren Besitz an. Und mancher Kleinbauer oder manche Witwe besaßen nur wenige, manchmal nur eines. Wie ist das dann, wenn Jesus sagt: sie sind mein eigen? Wies ist das, wenn wir zwar keines Menschen Eigentum sind und es nicht sein können, aber wenn wir Gott gehören. Wie sehr wird er danach fragen und darauf achten, was die angeheuerten Hirten mit denen machen, die Gottes Kinder sind.

Das ist die eine Seite: Jesus, der gute Hirte, kennt seine Schafe. Er ist eben kein „Mietling“, kein angeheuerter Hirte, dem die Schafe egal sind und der bei Gefahr davonläuft und seine Herde im Stich lässt, so dass der Wolf leichtes Spiel hat. Jesus setzt sein Leben ein. Er stirbt im Kampf gegen das schlimmste Raubtier: den Tod, der meint, am Ende gehöre alle Beute auf Erden ihm. Jesus besiegt die reißende Bestie. Deswegen feiern wir Ostern.

Die andere Seite ist: die Schafe kennen ihren Hirten, sie folgen seiner Stimme. Wie viele Stimmen rufen uns heute zu, lautstark wie die eines Marktschreiers oder verführerisch leise wie die der Schlange im Paradies, begleitet von Drohungen, viel öfter aber von Versprechungen, Stimmen der Werbung, religiöse Stimmen, Stimmen der Glücks- und Erfolgsratgeber, Stimmen von Müttern und Vätern, auch von Freunden – ein ganzes Stimmengewirr, die auf ihre Art alle dasselbe fordern: Folge mir. Folge meinem Rat, folge meinen Anweisungen, meinen Rezepten, und du wirst glücklich, erfolgreich, reich. Dein Leben bekommt Sinn – und was sie alles versprechen. Das war übrigens damals schon so, als Johannes sein Evangelium schrieb. Auch damals herrschte schon ein Konkurrenzkampf darum, was Leben heißt, was man braucht und wem man folgen soll, wenn man ein gutes, erfülltes, glücklichen Leben finden will. Nicht umsonst taucht im Johannesevangelium so oft dieses Stichwort „Leben“ auf, so wie in der Werbung heute, z.B. als „Durst nach Leben“.

Zu diesem Konkurrenzkampf gehört, dass Jesus sagt: Ich bin es. Ich bin das Brot des Lebens. Ich bin der gute Hirte. Meine Jünger, die an mich glauben, die kennen meine Stimme und hören sie heraus aus der Vielzahl der Stimmen, die alle auch rufen: Folge mir!“ Ich bin der gute Hirte. Ich führe zum Leben. Die anderen sind „Mietlinge“. Der Unterschied zeigt sich nicht bei Sonnenschein und grüner Wiese; nicht daran, wieviel die Schafe zu fressen bekommen und wie wohl genährt sie dastehen. Der Unterschied zeigt sich, wenn der Wolf kommt. Das klingt ein bisschen so wie: echte Freunde erkennt man, wenn es einem schlecht geht; wenn es nichts mehr zu holen gibt; wenn sich die anderen abwenden, weil einer Mist gebaut hat. Deswegen ist wohl das stärkste Stück in dem Psalm vom guten Hirten nicht das, wo es heißt: mir wird nichts mangeln, er weidet mich auf einer grünen Aue und führt mich zum frischen Wasser. All das ist sehr schön, wir brauchen es zum Leben, besonders das frische, erfrischende Wasser. Und es ist gut zu wissen, von wem das alles herkommt, wer uns so gut versorgt, wessen Sonne uns da lacht. Das stärkste Stück im Psalm vom guten Hirten ist aber die: „und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir“. Im Psalm heißt es weiter: „dein Stecken und Stab trösten mich“. Als Christen dürfen wir dabei durchaus an das Kreuz denken, wo Jesus sein Leben gelassen hat für seine Schafe. Wir können aber auch an die Stimme denken; seine Stimme, seine guten Worte, die wir hören im finstern Tal.

Für mich war es ein eindrückliches Erlebnis, eine Schafherde zu beobachten hier in der Umgebung von Bayreuth. Die weidete in einem saftigen Talgrund. Man hörte fröhliches Blöken, die Jungtiere sprangen umher. Doch der Schäfer trieb die Herde auf eine enge dunkle Unterführung zu, weil der hohe Damm der Bundesstraße den Weg an dem Bächlein entlang blockierte. Zögerlich gingen die Tiere auf den Tunnel zu, irgendwie ängstlich. Es wurde ziemlich still. Da drehte sich der Schäfer um und redete seinen Schafen mit freundlicher, beruhigender und aufmunternder Stimme gut zu. Vorsichtig trauten sie sich in die Unterführung hinein. Umso schneller drängten sie auf der anderen Seite wieder hinaus, strömten hinaus auf die breite Talwiese und begannen zu blöken, fingen an, sich zu unterhalten, als müssten sie einander erzählen, wie gefährlich dieser dunkle Gang jetzt war. Vielleicht hätten sie sich nicht hinein gewagt ohne das gute Zureden des Hirten, ohne seine vertraute Stimme. Unsere dunklen Täler und Unterführungen, unsere Durchgänge, die Angst machen, kommen meist sehr überraschend über uns, oft ohne Vorwarnung. Aber seine Stimme können wir hören. Zum Beispiel, wenn wir den 23. Psalm kennen und ihn uns selbst oder jemand anderem in einer solchen Situation vorsagen. Oder nur einen Satz aus dem Predigttext: Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.

Dann hören wir seine Stimme. Amen

 

Fürbittengebet:

Gott,

du bist der gute Hirte. In Weisheit und Liebe leitest du uns.

Wir bitten dich:

Für alle, die in der Kirche Verantwortung tragen:

gib ihnen, dass sie gute Hirten sind.

Für Christinnen und Christen aller Konfessionen:

führe sie zur Einheit in Wahrheit und Liebe.

Für die Verantwortlichen in Staaten und Gemeinden:

leite sie, dir und den Menschen zu dienen.

Für alle, die Hilfe brauchen und Orientierung suchen:

dass sie Fürsorge erfahren und Rat finden.

Gütiger Gott, du verbindest, leitest und führst uns durch deinen Sohn Jesus Christus zum ewigen Leben. Durch ihn loben wir dich, durch ihn beten wir dich an, durch ihn danken wir dir in deiner Kirche, jetzt und allezeit.



Autor: Dekan Hans Peetz