Das Maß ist voll

Gottesdienst der Altstadt in der Gottesackerkirche (Lukas 6, 36-42)


Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.  Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.  Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?  Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister.  Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?  Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Liebe Gemeinde,

das Maß ist voll. Das Maß ist voll, sagt Jesus. Aber es klingt ganz anders als bei uns. Wenn wir sagen „Das Maß ist voll“, dann hört sich das an wie bei Johannes dem Täufer, der seine Zuhörer beschimpft „Ihr Schlangenbrut und Otterngezücht, wie lange soll Gott euch noch seine Propheten schicken und es ändert sich doch nichts?". Oder wie bei einem Lehrer, der entnervt schreit: Jetzt reicht mir`s aber! Jetzt greife ich durch. Das Maß ist voll, jetzt ziehe ich andere Saiten auf!. Man kann ja fragen, wodurch sich Menschen wirklich ändern. Ob sie einen Schuss vor den Bug brauchen, eine harte Lektion, so wie man bei jugendlichen Straftätern von „Warnschussarrest“ spricht – oder ob letztlich Güte, Barmherzigkeit, Liebe einen Menschen verwandeln. Jesus jedenfalls droht nicht: das Maß ist voll, sondern redet von einem voll eingeschenkten Maß – nicht einer Maß Bier, die anders als auf dem Oktoberfest nicht zur Hälfte aus Schaum besteht, sondern wirklich überläuft. Jesus stellt ein Getreidemaß vor Augen.

 

„Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben.“ Die Alten kennen noch solch ein Getreidemaß, ein rundes, zylindrisches Gefäß aus Holz mit geraden Wänden, mit dem man Getreide abmisst. Voll soll es sein, drücken soll man auf das Getreide, dass möglichst viel hineinpasst. Rütteln soll man es, dass möglichst wenig Hohlräume zwischen den Körnern bleiben. Nicht nur glatt streichen soll man es oben, dass es genau ein Maß ist, sondern noch mehr drauf geben, dass es beinahe überläuft. Ein solch gerüttelt, überfließend Maß wird man euch in den Schoß legen.

 

Bei Jesus ist das eine Verheißung, ein Versprechen, das sich wohl erst im Himmel ganz erfüllt. Jetzt ist die Gottesackerkirche nur noch Friedhofskirche für größere Beerdigungen und Gedenkfeiern an Allerheiligen. Da wird diese Verheißung verkündet und gepredigt; das volle Maß, das Gott für die Seinen bereit hält – trotz aller Fehler, Schwächen, Sünden im Leben. Aber wir erleben das doch schon vorher:. Ihr seid reich beschenkt. Dankbarkeit  könnte die Grundhaltung und Lebenseinstellung von Christen sein, die wissen: Das Wesentliche und Wichtigste in meinem Leben ist Geschenk: die Natur um mich herum, der blaue Himmel, die Sonne, mein Leben, die Freundlichkeit, die Liebe von Menschen. Und auch das, was ich mir hart erarbeitet habe, was ich durch eigene Fähigkeiten, durch Muskelkraft oder durch Verstand – heute sagt man: Kompetenz – erreicht habe; so verdanke ich doch diese Kraft und diese Fähigkeiten nicht mir selber. Das ist für mich eines der Grundbekenntnisse christlichen Glaubens: Das Wesentliche im Leben ist Geschenk. Auch wenn Arbeit, Leistung wichtig ist, sich reinhängen und anstrengen, kämpfen für ein Ziel – so dass manche sagen: Das Leben ist ein Kampf, was ja oft stimmt. Was aber auch verkrampft macht, verbissen und wie Scheuklappen den Blick verengt. Wer glaubt, hält dagegen: Das Leben ist Geschenk.

 

Nun würden wir aus unserer Erfahrung wohl nicht gleich von einem voll gerüttelten, überfließenden Maß reden. Bei uns geht es oft darum, ob das Glas nun halb voll oder halb leer ist. Sie kennen die Unterscheidung: Der Pessimist sagt: Das Glas ist halb leer. Der Optimist sagt: Das Glas ist halb voll. Sollen Christen Optimisten sein? Dietrich Bonhoeffer jedenfalls fordert das. Er schreibt:
“Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignieren, eine Kraft, den Kopf hoch zu halten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern für sich in Anspruch nimmt... Den Optimismus als Willen zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt.“

 

Bauen ist ein optimistisches Geschäft. Eine Gemeinde, die ein neue Kirche, ein  Gemeindehaus baut sieht hoffnungsvoll in die Zukunft. Nicht nur, dass der Bau einmal abbezahlt werden kann, weil genügend Spenden und Kirchgeld und Kirchensteuern kommen. Die Altstadtgemeinde hat vor 50 Jahren eine neue Kirche gebaut, die Erlöserkirche; ihre eigene Kirche, groß und imposant, mit einem Turm, den man weithin sieht und dann zuletzt ein eigenes Gemeindehaus daneben. Zur Zeit möchten die von St. Johannis ein neues Gemeindehaus bauen und die Lainecker eine neue Kirche. Ist das ein zu großes Wagnis und Risiko für die Zukunft? Schon beim Bau der Christuskirche, der ersten neuen Kirche nach dem Krieg, hat man gefragt, ob man einen solchen Neubau noch verantworten kann angesichts der ungewissen Zukunft. Bauen ist ein optimistisches Geschäft, weil sich darin die Hoffnung und das Vertrauen ausdrückt, dass auch in Zukunft Menschen dieses Haus füllen, nützen und brauchen. Dass Kinder und Jugendliche zu Jungschar und Kinderbibelwochen, zu Konfirmandenunterricht und Jugendarbeit kommen, dass sie nicht nur vor dem Fernseher und dem Computer sitzen, sich nicht nur für Harry Potter oder Computerspiele interessieren, sondern auch für für das, was dem Leben Sinn gibt, für Glaubensdinge, ja auch für die Bibel. Dass Erwachsene im mittleren Alter und Ältere kommen, weil sie hier etwas finden, was es anderswo nicht gibt; dass sie sich herauslocken lassen aus ihren gemütlichen Wohnzimmern und weichen Sesseln und hierher kommen. Bauen in der Kirche heisst, darauf vertrauen, dass auch in Zukunft Menschen nach Gott fragen, dass der Glaube, das Evangelium von Jesus Christus für ihr Leben Bedeutung hat; dass sie sich hier Hilfe versprechen; heute würde man sagen: Lebenskompetenz; Rat; die Möglichkeit, Lasten los zu werden; eine Bereicherung durch neue Horizonte, durch einen anderen Blick; auch durch eine fröhliche Feier.

 

Jesus sagt es mit einem kritischen Bild: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Ja, wer in die Kirche, ins Gemeindehaus kommt, der erwartet nicht Blinde, nicht Leute, die wie Blinde von der Farbe reden, nicht Pfarrer oder Mitarbeitende, die in Glaubensdingen blind sind. Auch wenn der eigene Blick vielleicht getrübt ist,  auch wenn man gerade einmal ein Brett vor dem Kopf hat, hier in der Kirche darf man zu recht Leute erwarten, die einen anderen Blick haben; Leute, die etwas von Gottes Liebe gesehen  und erkannt haben; ja, ich möchte sagen: Leute, die schon einmal einen Blick in den Himmel tun konnten. Vielleicht ist es ja in der Gemeinde nicht so, dass die einen die Blinden und die anderen die Durchblicker sind. Sondern so, dass wo der eine seine blinden Flecken hat, der andere genau sieht. Oder mit dem Bild von dem Blinden und dem Gelähmten, die vom Feuer überrascht werden. Der Gelähmte müsste allein sitzen bleiben und verbrennen. Der Blinde würde in die Flammen hineinlaufen und auch verbrennen. Aber wenn der Blinde den Gelähmten auf die Schultern nimmt, können sich beide retten, denn der Blinde kann laufen und tragen und der Gelähmte kann sehen und lenken.

 

Ja, in einer Gemeinde sind nicht die einen die Sehenden und die anderen die Blinden – das gilt auch zwischen Pfarrer und Gemeinde – wird sind alle teils sehend, teils kräftig, teils fähig und andernteils blind, eingeschränkt, gelähmt, behindert. Wir brauchen einander. Vielleicht ist das in unserer Zeit verloren gegangen oder verschüttet, dieses Wissen. Das höchste Ideal scheint zu sein, wenn man sagen kann: Ich brauche niemanden. Ich bin auf niemanden angewiesen. In einer Gemeinschaft, in einer Gemeinde ist es anders.

 

Noch eine andere Regel gibt Jesus mit für das Miteinander von Christen: Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und siehst nicht den Balken in deinem eigenen Auge? Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst. Jesus gibt eine Regel, quasi eine Hausordnung, wie man einander in einer Gemeinde begegnen soll. Das hängt mit dem vollen, gerüttelten Maß zusammen, mit dem Geschenk: Wer weiß, dass er beschenkt ist, dass das Wesentliche in seinem Leben Geschenk ist, der geht anders mit den Schwächen um, mit den eigenen und den fremden. Dem fällt es nämlich leichter, den Balken im eigenen Auge zu sehen. In dieser Gemeinde kommen keine Saubermänner (oder „Sauberfrauen“) zusammen, keine Übermenschen mit lupenreiner Weste, keine, die einander etwas vormachen müssen; auch keine, die sich gegenseitig übertrumpfen: mein Haus, mein Auto, mein Pferd. Hier kommen Leute zusammen, die zweierlei wissen: Ich bin beschenkt – und: Ich bin beschränkt. Ich habe einen Splitter im Auge. Ich muss mich dessen nicht schämen.

 

Und dann kann es gelingen, dass einer dem andern den Splitter – den Spreissel – herausziehen kann, was den Blick trübt, was schmerzt im Auge, dass ich nicht mehr klar sehe, dass die Augen tränen. Dass der Splitter herausgespült wird mit den Worten, die jemand erzählen kann über seine Not und Trauer – nicht nur im Trauerfall, wenn hier eine Beerdigung statt findet; dass jemand liebevoll ins Auge hineinschaut, zart und vorsichtig sucht und das Schmerzende entfernt. Vielleicht, weil er einfach nur zuhört oder ein Lösung weiß.

 

Wo wir uns streiten, ob das Glas nun halb voll oder halb leer ist; wo heute vor allem über leere Gemeinde und Kirchenkassen, über Haushaltsdefizite geklagt wird; wo heute vielerorts, auch in der Kirche und jetzt bei uns in der Diakonie Bayreuth von Abbau die Rede ist: Stellen abbauen, Arbeitsfelder aufgeben; es ist unumgänglich – da hören wird heute: das Maß ist voll. Ihr seid reich beschenkt. Das ist kein billiger Zweckoptimismus nach dem Motto: Hört endlich auf zu jammern, es geht schon wieder aufwärts. Das klingt wie eine Botschaft aus einer anderen Welt. Es ist die Botschaft von dem Gott, von dem es heißt: du schenkst mir voll ein.

 

Das Maß ist voll. Darum soll auch bei unseren Festen jetzt im Sommer die Maß voll sein, gut eingeschenkt. Jesus will, dass wir uns von Gottes Großzügigkeit anstecken lassen; dass wir als reich Beschenkte uns selbst verschenken. Ja, Jesus geht soweit, dass er das volle, gerüttelte und überfließende Maß an eine Bedingung knüpft: Gebt, so wird euch gegeben. Vergebt, so wird euch vergeben. Wer so reich beschenkt ist, dem geht das Herz auf; nicht wie dem Geizhals, der je mehr er hat desto mehr haben will, weil er immer noch nicht genug hat, immer noch meint: Es ist zu wenig, es reicht nicht. Sondern wie jemand, der weiß: Für mich ist gesorgt. Ich habe einen Vater im Himmel, der lässt mich nicht zu kurz kommen. Leute, die das wissen, die haben ein weites Herz und offene Hände. Die wissen, ich habe nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen, wenn ich gebe, wenn ich mitarbeite, wenn ich meine Zeit hergebe, sei es zuzuhören oder Stühle zu stellen, im Posaunenchor zu blasen oder mit Kinder Spiele zu machen. Da wird Gemeinde aufgebaut, wo dieser Geist am Werk ist. Gebt, so wird euch gegeben. Schenkt, denn ihr seid reich beschenkt. Das Maß ist voll, drum darf das Glas auch voll sein. So wie es im 23. Psalm heißt:  „Du schenkst mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang. Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Amen



Autor: Dekan Hans Peetz