Das Gebet und das Leben

Markus 10, 2-9


Und Pharisäer traten zu ihm und fragten ihn, ob ein Mann sich scheiden dürfe von seiner Frau; und sie versuchten ihn damit. Er antwortete aber und sprach zu ihnen: Was hat euch Mose geboten? Sie sprachen: Mose hat zugelassen, einen Scheidebrief zu schreiben und sich zu scheiden. Jesus aber sprach zu ihnen: Um eures Herzens Härte willen hat er euch dieses Gebot geschrieben; aber von Beginn der Schöpfung an hat Gott sie geschaffen als Mann und Frau. Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und wird an seiner Frau hängen, und die zwei werden "ein" Fleisch sein. So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern "ein" Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.

 

Liebe Gemeinde,

„wenn jemand eine Frau zur Ehe nimmt und sie nicht Gnade findet vor seinen Augen, weil er etwas Schändliches an ihr gefunden hat, und er einen Scheidebrief schreibt und ihr in die Hand gibt und sie aus seinem Hause entlässt, und wenn sie dann aus seinem Hause gegangen ist und hingeht und wird eines andern Frau und dieser andere Mann ihrer auch überdrüssig wird und einen Scheidebrief schreibt und ihr in die Hand gibt und sie aus seinem Hause entlässt oder wenn dieser andere Mann stirbt, der sie sich zur Frau genommen hatte, so kann sie ihr erster Mann, der sie entließ, nicht wieder zur Frau nehmen.“ Die Schriftgelehrten, die Theologen, die damals zugleich Juristen waren, Rechtsgelehrte, kennen das geltende Scheidungsrecht. Wieder einmal wollen sie Jesus, der für seine radikalen Ansichten bekannt wurde, eine Falle stellen und in Widersprüche verwickeln. Jesus macht aber deutlich: der Widerspruch liegt aber schon zwischen dem Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ und der Auslegung oder Anwendung im Scheidungsrecht, wie es das 5. Buch Mose enthält. Man könnte sagen: ein Widerspruch innerhalb der Bibel selbst, denn nicht nur die zehn Gebote galten als Gottes Wort. Sie kennen die Geschichte mit den zwei Steintafeln, die Gott dem Mose auf dem Berg Sinai überreichte. Auch die fünf Bücher Mose, das „Gesetz“ galt als Gottes Wort. In Klammern: allein das macht es schon unmöglich, jedes Wort der Bibel unkritisch als Gottes Wort anzusehen. Wer würde die zitierten Sätze als Gottes Willen ansehen, dass ein Mann, der seiner Ehefrau überdrüssig geworden ist, wie es so schön heißt, diese einfach aus dem Haus werfen kann. Klammer zu.

Ich verstehe eine solche Auslegung des Gebotes als Versuch, das Gebot an das Leben anzupassen, wenn das Leben nicht mehr zum Gebot passt. Das ist das Hauptproblem. Man könnte sagen: wenn das Leben nicht mehr den Maßstäben entspricht, dann passt man eben die Maßstäbe an. So ähnlich wie die Bundesbahn: wenn die Fahrzeiten zwischen Pegnitz und Nürnberg oder zwischen Ingolstadt und München sich wegen Bauarbeiten verlängern, wird der Fahrplan angepasst. Oder, wie es in England geschehen sein soll, es gibt einfach keinen Fahrplan mehr, oder man entfernt die Uhren von den Bahnhöfen. Dann gibt es auch keine Verspätungen mehr.

Beides kann man ja am Beispiel der Ehescheidung, die nur ein Beispiel für alle Gebote ist, gut zeigen. Die Maßstäbe an das Leben anpassen – nicht in dem Sinn, dass man fragt, was dem Leben am besten nützt, sondern dem, wie die Leute eben leben wollen. Man versieht das Gebot mit lauter Einschränkungen, sogenannten Kautelen: wenn und wenn und wenn. Man nennt das in der Ethik (und auch im Recht?) Kasuistik. Für jeden Fall gilt eine andere Vorschrift. So wie wir es am Anfang gehört haben: wenn jemand eine Frau nimmt, wenn sie etwas Schändliches getan hat, wenn er ihr einen Scheidungsbrief ausstellt, damit sie nicht ganz rechtlos ist und nicht als Hure dasteht, wenn ein anderer sie zur Frau nimmt, wenn der ihrer überdrüssig wird – lauter Wenn und Aber. Jesus sagt: Mose hat dieses Gesetz um eurer Herzens Härte willen gegeben. Man könnte auch sagen: weil ihr nicht immer zur Liebe fähig seid; weil ihr es nicht schafft, Gottes Gebot einzuhalten. Damals war das das Privileg der Männer. Sie konnten die Frau nach Lust und Laune nehmen und wegschicken „hire and fire“. Mit einem Minimum an Versorgungsanspruch, nämlich dass sie mit dem Scheidebrief wieder heiraten und von einem anderen versogt werden konnten. Unser heutiges Scheidungsrecht ist da wesentlich humaner und der Gleichberechtigung verpflichtet. Aber darum geht es mir nicht. Diesen Versuch, den Maßstab, den man nicht einhalten kann oder will, immer anzupassen, sozusagen vom Maßband immer wieder ein Stückchen abzuschneiden – nicht wie früher bei der Bundeswehr, um die letzten Tage zu zählen, die man noch ableisten musste, sondern um sich zu rechtfertigen; damit es eben nicht heißt: gemessen und zu kurz befunden, gewogen und zu leicht befunden. Beim Bundesbahnfahrplan mag das vorübergehend angehen, bei Gottes Gebot sagt Jesus klar: Nein!

Den andere Weg, die Maßstäbe einfach ganz wegzuwerfen – also einfach die Uhren, die unbestechlich die Verspätung anzeigen, abzuhängen – den kennen wir gerade im Blick auf Ehescheidung oder viele andere ethische Themen ebenso. Was schert viele noch das Gebot. Bei der vierten oder fünften Ehescheidung mancher Prominenter könnte man schon anfragen, ob ein Eheversprechen – bis dass der Tod uns scheide – noch angebracht wäre. Aber die verzichten auch auf eine kirchliche Trauung. Der Maßstab wird zerbrochen und weggeworfen. Wo kein Maßstab ist, lässt sich auch keine Abweichung feststellen. Alles ist erlaubt und rechtmäßig. Wir müssen da nicht auf andere zeigen. Sicherlich gibt es auch Bereich in unserem Leben, wo uns das einen Dreck kümmert, was Gott will.

Jesus hält das Gebot fest. Ohne Einschränkungen, ohne Wenn und Aber, eben radikal, wie er ist. Nicht, weil er ein verbohrter Traditionalist ist, ein Vertreter der alten Ordnung. Auch nicht, weil er den Leuten das Leben vermiesen und alles verbieten will, was Spaß macht. Solche lust- und leibfeindlichen Vertreter gab es in der Kirche sicherlich nach ihm. Die haben das Bild von Kirche nachhaltig verdorben, wie z.B. der Kirchenvater Augustinus, der neben dem vielen Schönen und Guten, das er gesagt hat, eben auch die Ansicht vertrat, die Erbsünde würde von einer Generation auf die nächste weitergegeben durch den Geschlechtsakt, mit dem ein Kind gezeugt wurde – auch wenn Vater und Mutter ordentlich verheiratet wären. Jesus ist nicht der Spaßverderber, wenn er radikal am Gebot festhält. Er weiß: das Gebot ist gut, es dient dem Leben. Glücklich wäre der Mensch, der ganz und gar danach leben könnte.

Man muss sich nur den Kleinen Katechismus Martin Luthers mit den Auslegungen zu den 10 Geboten vor Augen führen, wo es eben nicht heißt: das darfst du nicht und das auch nicht, sondern positiv ausgedrückt wird, wie ein Leben nach dem Gebot aussehen soll, z.B. beim sechsten, dass wir einander lieben und ehren sollen, in der Ehe und darüber hinaus. Auch Paulus hält fest: das Gebot ist gut, eine gute Gabe Gottes, auch wenn wir es nicht einhalten können. Gerade in der Radikalisierung, die Jesus den Geboten gibt, kann keiner es einhalten. Denken wir nur an das sechste Gebot. Eben nicht nur die Ehescheidung spricht Jesus an. In der Bergpredigt nennt er es schon Ehebruch, die Frau oder den Mann des  oder der anderen begehrenswert zu finden. Das ist kein weltfremder Keuschheitsfimmel, der zur Zeit Jesus manche Pharisäer veranlasste, mit verbundenen Augen durch die Straße zu gehen, damit sie nicht durch den Anblick einer Frau versucht würden; so wie heute muslimische Frauen verhüllt gehen, um keine verführerischen Anreize für Männer zu bieten. Ich verstehe diese Radikalisierung des Gebotes bei Jesus so, dass er die äußere Fassade der Wohlanständigen durchbrechen will, die mit Fingern auf andere zeigen. Wie schnell werden die eigenen unerlaubten Gedanken, die sich hinter einer solchen Fassade regen, auf andere übertragen; zum Beispiel diese Art von Prominenten, die man vielleicht im Geheimen beneidet um ihre Freizügigkeit. Jesus zeigt: keiner ist frei von solchen Gedanken und Gefühlen.

Das Gebot bleibt stehen. Da gibt es keine Abstriche. Da werden nicht schnell Mal 20 oder gar 50 Zentimeter abgeschnitten vom Maßband, damit es wieder passt. „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“ In unserem Predigttext ist das das letzte Wort. Zu Hause fragen Jesus seine Jünger, ob er das wirklich so radikal gemeint hat, und er bestätigt es. Aber im Umgang mit den Menschen ist das nicht das letzte Wort Jesu. Erstaunlich oft kommen sogenannte „Ehebrecherinnen“ im Neuen Testament vor. Die „große Sünderin“, die Jesus im Hause der Pharisäer die Füße mit ihren Tränen netzt und mit ihren Haaren trocknet, wird später mit Maria Magdalena identifiziert, der früheren Schutzpatronin unserer Kirche. Nach einer ehemaligen Prostituierten war unsere Kirche über 400 Jahre lang benannt. Ich sage das nicht, um alle Verstöße gegen das Gebot zu legitimieren nach dem Bierzelt-Motto: „Wir sind doch alle, alle kleine Sünderlein“ – oder auch größere. Das Problem, dass das Leben und das Gebot auseinanderklaffen, das besteht seit Jahrtausenden. Eben seitdem es das Gebot gibt. Die Lösung ist nicht die bequeme, das Gebot anzupassen, immer mehr davon abzuschneiden, bis es passt. Ein Pfarrer sagte einmal, er verstehe das Trauversprechen „bis der Tod euch scheidet“ so, dass der Tod der Beziehung gemeint sei. Das wäre dann so wie im 5. Buch Mose: wenn ihr einander überdrüssig geworden seid. Nein, wir halten auch in der evangelischen Kirche an dem Satz Jesu fest: Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. Und wir fangen auch nicht an zu spekulieren, dass Gott vielleicht diese oder jene Beziehung nicht zusammengefügt haben könnte, damit wir doch eine Ausrede hätten. Aber wir rechnen mit dem Scheitern, damit, dass das Versprechen, das damals ehrlich gemeint war, nicht durchgehalten werden konnte. Da ist immer auch menschliche Schuld im Spiel, auch unser Scheidungsrecht schon lange das Schuldprinzip aufgegeben hat und man meistens nicht einseitig fragen kann, wer nun die Schuld an dem Scheitern trüge. Dass man beieinander bleiben möchte ein Leben lang – manche sagen im Rausch der Gefühle sogar: immer und ewig, dass man sich es gar nicht vorstellen kann, einander nicht mehr zu lieben und einander treu zu sein, das kommt aus dem Herzen und nicht aus einem äußeren Gebot. Liebe will den anderen ganz und schenkt sich ganz. Liebe will Dauer. Deswegen ist das Gebot gut und entspricht ganz dem Wesen der Liebe. Aber das Leben entwickelt sich oft anders. Wir leben dann in dieser Spannung zwischen dem guten Gebot und unseren Möglichkeiten. Zwei Geschichten später geht es um die gleiche Spannung, allerdings auf einem anderen Gebiet: nicht um Sex, sondern um Geld – ein ebenso prickelndes Thema. Jesus stößt auch hier vor den Kopf: Eher kommt ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel. Auch da fragen die entsetzten Jünger, ob das das letzte Wort sei. Wer kann dann selig werden? Jesus verteilt keinen Persilschein, damit man alle rein waschen könne. Er sagt: Alle Dinge sind möglich bei Gott. Oder mit den Worten von Blaise Pascal: „In jedem Menschen ist ein Abgrund; den kann man nur mit Gott füllen.“ Amen



Autor: Dekan Hans Peetz