Das Geheimnis

1. Korinther 4,1-5


Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden. Mir aber ist's ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist's aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteilwerden.

Liebe Gemeinde,

„jetzt habe ich dich durchschaut“. Das klingt fast schon kriminalistisch. Meistens fällt so ein Satz, wenn man meint, die wahren Absichten erkannt zu haben. Du hast mir etwas vorgespielt, aber jetzt konnte ich hinter die Fassade schauen, sozusagen einen Blick hinter die Kulissen werfen, etwas von den Gedanken lesen. Die Täuschung ist aufgeflogen. So ungefähr klingt ja auch, was Johannes der Täufer im den Stadtbewohnern von Jerusalem an den Kopf wirft, als sie zu ihm hinaus in die Wüste pilgern. Es sind solche, die wir heute als „Normalbürger“ und anständige Leute bezeichnen würden, aber er nennt sie Schlangenbrut und Otterngezücht. Die versteckt sich ja auch gern unter Steinen. Und ein Prophet im Alten Testament beschimpft sein Hörer als übertünchte Gräber, also außen strahlend weiß, frisch verputzt, und innen drin Verwesungsgeruch.

Darauf bin ich gekommen, weil wir dieses „jetzt habe ich dich durchschaut“ meistens so negativ verwenden. Der wahre Kern, der da angeblich zum Vorschein kommt, ist in solchen Situationen meist ein schlechter und böser. Damit sind wir beim Urteil. Gut, wenn ein Richter sich nicht blenden lässt von der Fassade, auch nicht von einem redegewandten Anwalt, sondern versucht, dahinter zu schauen, den wahren Kern zu treffen, die wirklichen Motive zu finden. Doch der Apostel Paulus schärft uns heute ein: Richtet nicht. Ja, er sagt sogar von sich selbst: ich richte mich auch nicht selbst, ich beurteile mich nicht selbst, auch wenn ich besser als jeder Außenstehende meine Gedanken kenne, meine Gefühle, was in mir vorgeht.

Das kommt daher, dass wir uns nicht einmal selbst ganz durchschauen. Warum habe ich das jetzt getan? Warum habe ich jetzt so reagiert? Warum habe ich geschwiegen oder mit einem verletzenden Wort zurückgeschossen. Warum bin ich da stehen geblieben und habe geholfen und bin ein andermal schnell vorbei gegangen. Wir durchschauen uns nicht einmal selber, geschweige denn einen anderen. Paulus sagt: überlasst das Urteilen Gott, der wird Licht in die Finsternis bringen, so dass das Trachten des Herzens offenbar wird. Nur er sieht und weiß, was im Innersten vor sich geht. Wir müssen dagegen damit leben, dass wir einander nie durchschauen, auch wenn sich die äußere Fassade manchmal für einen Spalt öffnet oder für einen Augenblick ganz herunter fällt; auch wenn man mit zunehmender Menschenkenntnis sich schon einem Reim darauf machen kann, warum der eine jetzt so und der andere so reagiert, oder was er eigentlich vorhat.

Aber das können nur vorläufige Urteile sein. Diese Vorläufigkeit passt ja in die Adventszeit, Johannes der Täufer ist der Vorläufer Jesu und ruft „Bereitet dem Herrn den Weg“ Besonders bei uns Evangelischen war Johannes mit all seinen Abwandlungen der beliebteste Jungennamen. Für mich nicht nur ein Hinweis, der ausgestreckte Zeigefinger auf Jesus, an den wir glauben sollen, sondern eben auch ein Ausdruck des Vorläufigen. Wie oft haben wir unsere Urteile über einen Menschen ändern, revidieren müssen. Wie oft haben wir zugeben müssen: in dem und der, in dir habe ich mich getäuscht – so oder so, zum Guten oder zum Schlechten. Ich habe nicht gewusst, dass du es gut meintest oder böse meintest. Aber auch so ein revidiertes Urteil kann nicht das letzte sein, weil ich es eventuell wieder zurücknehmen muss.

Natürlich bilden wir ständig ein Urteil über andere. Das beginnt schon mit dem ersten Blick, dem ersten Kontakt am Telefon, vielleicht schon bei der ersten e-mail-Nachricht. Erstbegegnungen sind dabei ja besonders prägend. Manchmal prägt sich ein Bild so tief ein, dass es sich nicht mehr ändern lässt. Ständig urteilen wir und denken uns oder sagen: der ist nett, der ist ein Schlamper, der ist gewissenhaft. Und wir merken, wie das umso kritischer wird, ja umfänglich das Urteil die ganze Person umfasst. Deswegen warnt ja auch Jesus in der Bergpredigt vor solchen Ausdrücken wie „du Idiot“ oder „du Nichtsnutz“, weil damit der ganze Mensch abqualifizert wird, und nicht nur ein Schwäche, ein Fehler benannt wird. Johannes der Täufer urteilt ja auch ziemlich heftig. Aber das Urteil über die ganze Person, über den ganzen Menschen steht nur Gott zu. Bei Gericht wird ja auch die Straftat be- und verurteilt und nicht der ganze Mensch. Es heißt ja richtig auch nicht „der Verbrecher“, sondern höchstens der Straftäter.

Aus der Vorläufigkeit und Begrenztheit unseres Urteilsvermögens – einfacher gesagt: dass wir einander eben nicht durchschauen können, zieht Paulus den Schluss, dass wir ganz auf solche umfassen Urteile verzichten sollen. Wir sollen und können gut damit leben, dass wir eben nicht in den Kopf und ins Herz oder sonst wohin ins Innenleben eines Menschen schauen können. Dass sollte vorsichtiger machen mit Urteilen. Ich finde es schon erstaunlich, wie häufig dieses Thema im Neuen Testament vorkommt, bei Jesus und dann bei Paulus, dieses: Richtet nicht. Und damit ist eben nicht ein Urteil über einzelne Taten und Fehler gemeint, sondern über einen Menschen insgesamt zu richten.

Aber Paulus spricht in unserem Predigttext noch einen zweiten Aspekt an, wo es darum geht, dass wir etwas nicht durchschauen. Und der klingt dann eben nicht so unweihnachtlich ermahnend, sondern froh und staunend, so wie eben die oft zitierten Kinderaugen in diesen Tagen glänzen und staunen. Was wir nicht durchschauen können, das ist das Geheimnis. Nicht ein Rätsel, das einmal gelöst langweilig wird wie das Kreuzworträtsel von der vergangenen Woche. Nicht nur, dass wir sagen: dieser Mensch ist mir ein Rätsel, ich werde ihn nie verstehen (so wie man fragt, ob sich Frauen und Männer je verstehen können oder füreinander immer ein Rätsel bleiben). Sondern ein Geheimnis, das ein Geheimnis bleibt, je mehr wir uns darin versenken. So wie eben die Liebe ein Geheimnis bleibt, und ganz besonders Gottes Liebe. An Weihnachten feiern wir das Geheimnis der Menschwerdung, dass uns in diesem Kind in der Krippe Gott selbst begegnet. Und zwar heute. Dass das eben nicht nur damals ein Geheimnis war, dass der ewige Gott, der Schöpfer der Unendlichkeit, sich in diesem Kind finden lässt. Sondern jetzt, dass er jetzt da ist, jetzt in Brot und Wein. Über dieses Geheimnis kann man jedes Mal nur staunen. Froh und glücklich macht dieses Geheimnis, weil es Liebe ist. Weil Gott uns da in sein Herz schauen lässt. Lichter und Geheimnisse erfüllen die Weihnachtszeit, und das ist mehr als das Rätsel, was sich hinter dem bunten Geschenkpapier verbirgt. Das durchschaut man schnell, wenn man das Papier je nach Temperament aufreißt oder vorsichtig öffnet. Das Geheimnis durchschaut man nie, je mehr man sich hinein vertieft, umso wunderbarer wird es.

Nun bezeichnet sich Paulus als Haushalter über Gottes Geheimnisse. Was ist das? Ist das der Gralshüter oder Museumswärter, der wacht, dass die ihm anvertrauten Schätze nicht beschädigt oder gar entwendet werden? Hüten wir in der Kirche ein Geheimnis aus alter Zeit, das golden glänzt in den Abendmahlskelchen und auf goldenen Tellern. Oder ist der Haushalter, der Verwalter einer, der seine Geschäfte macht. Mit dem Geheimnisvollen, dem Rätselhaften lassen sich ja gute Geschäfte machen, man muss nur auf den Esoterikmarkt schauen, auf dem man auch aus Kieselsteinen Geld machen kann, wenn man nur an deren geheimnisvolle Wirkung glaubt oder Leute findet, die daran glauben und bereit sind, zu zahlen. Das wäre dann eine Art moderner Ablasshandel, dass die Kirche Aktien und Anteile verkauft an einem himmlischen Schatz. Auch heutzutage beflügelt der geheimnisvolle Gold- und Lichterglanz die Geschäfte an den Adventswochenenden.

Treue Haushalter über Gottes Geheimnisse, das bedeutete für Paulus wohl zweierlei: Einerseits das Geheimnis rein zu bewahren, so wie der Wein rein sein soll und nicht verpanscht und wir einander reinen Wein einschenken sollen.  Im Kapitel vorher drückt es Paulus so aus: Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Christus. Er ist das Geheimnis in Person. Nicht weil er so geheimnisvoll daher kämme oder geheimnisvoll täte, wie manche Menschen gerne tun, um sich wichtig zu machen oder die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das Geheimnis ist, wie in einem Menschen auf Fleisch und Blut, der gelebt hat in einem kleinen Land im Orient, ein Mensch mit Vater und Mutter, mit Fingerabdruck und DNA, wie in diesem Menschen Gott selbst da war, zwar einem ganz besonderen Menschen mit bewundernswerten Worten und Taten, aber doch einem Menschen wie du und ich, dass wir den Gottes Sohn nennen, zu ihm beten und glauben, dass er dann in Brot und Wein gegenwärtig ist, und zwar zu unserem Heil; dass wir durch ihn Leben und Seligkeit haben. Paulus meint, für die einen ist das Blödsinn und Narretei, für andere ein Ärgernis, aber für die, die daran glauben, Gottes Weisheit.

Dieses Geheimnis rein zu halten, bedeutet nicht, es ins Museum zu sperren, es für Unveränderlich, unantastbar zu halten, niemand heranzulassen, der einen Zacken aus der Krone herausbrechen könnte oder ein Wortchen verfälschen könnte. Vielmehr muss es hinaus, so wie es in einer Epistel zum Weihnachtsfest mit einem altertümlichen, aber schönen Wort heißt: kündlich groß ist das Geheimnis. Es muss verkündet, ausgebreitet werden, mit vollen Händen ausgegeben und ausgeschüttet werden, ein Schatz, der unter die Leute muss. Diener Christi ist der Apostel darin, dass er unablässig von ihm redet und für ihn wirbt, für den Glauben an ihn wirbt. Dieser Art Haushalter erweist seine Treue darin, könnte man sagen, dass er seinen Schatz nicht hütet und vergräbt, sondern ihn hinausstreut unter die Leute. Das Wunder dabei ist ja, dass der Schatz dabei nicht kleiner wurde oder durch das inflationäre Ausstreuen an Wert verloren hätte, so wie die Weihnachtsgeschichte nicht an Wert, an Bedeutung, ja an geheimnisvoller Faszination verliert, auch wenn sie jedes Jahr und immer wieder vorgelesen wird, dieses Christus, der Herr, ist heute geboren, weil er tatsächlich in dem Moment  in unserem Mund und in unseren Ohren und damit in unseren Herzen zur Welt kommt.

Wir durchschauen es nicht. Auch der Mensch ist und bleibt ein Geheimnis. Weil wir ihn nie durchschauen und weil Gott allein ins Herz schaut und weiß, was darin bewegt wird und wodurch es bewegt wird, sollen wir vorsichtig sein mit unseren Urteilen. Sie sind immer nur vorläufig und begrenzt und können nie den ganzen Menschen erfassen. Noch mehr aber ist dieser eine Mensch Jesus Christus ein Geheimnis, weil in ihm Gott, der die Liebe ist, ein Gesicht bekommen hat und jetzt da ist, mitten unter uns, ja in uns drin. Amen .



Autor: Dekan Hans Peetz