Einkehren

ohne Bibelstellenangabe


Sie, liebe Gemeinde, haben die Kurve gekriegt heute Nacht. Nach dem, was alles dazu gehört zu einem Heiligen Abend – und das ist ja bei jedem ein wenig anders. Manch einer feiert sogar ganz anders oder überhaupt nicht. Nach all dem hoffentlich Gutem und Schönen unter dem Weihnachtsbaum und auf dem Festtisch, nach Bescherung und Weihnachtsessen zwischen Würstchen mit Kartoffelsalat und Festmenü, vielleicht auch nach Bier und Wein haben Sie noch einmal die Kurve gekriegt und sind in die Stadtkirche gekommen. Ich muss gestehen, dass mir das selbst manchmal nicht so leicht fällt am Ende eines dann trotzdem anstrengenden Tages. Beim Skifahren nennt man diese besondere Kurve, die einen von der Piste abbringt: Einkehrschwung. Man schwingt den Hang hinunter, legt einen besonders großen Bogen und lässt es ausschwingen in einer Hütte. In dem Wort „Einkehr“ ist die Kurve, die Kehre gleich mit drin. Man setzt seinen Weg nicht geradeaus fort, sondern macht eine Kehre und kehrt ein.

Nun kehrt man bei uns normalerweise in einer Wirtschaft, einem Gasthaus ein. Und wenn der Ehemann nachts spät von der Arbeit nicht mehr ganz nüchtern heimkehrt, und auf die Frage „Wo warst du denn so lange?“ antwortet: „ich bin schnell noch ein bisschen eingekehrt“, dann weiß die Ehefrau genau, welche wichtigen Geschäfte ihn aufgehalten haben. Es ist schade, dass man beim Einkehren immer gleich ans Wirtshaus denkt. Dabei passt dieses schöne Wort so gut zu einer Kirche und zu einem Gottesdienst wie dem heute Nacht. Denn beim Einkehren kommt man zur Ruhe. Beim Skifahren erholt man sich nach dem Einkehrschwung von den vielen Schwüngen vorher oder von den gelaufenen Kilometern und stärkt sich mit Germknödel oder Kaiserschmarrn. Kloster bieten Einkehrtage und versprechen im Internet „Tage himmlischer Ruh“. Man sieht sich schon selig schlummern wie den holden Jesusknaben im Lied „Stille Nacht“: „schlaf in himmlischer Ruh“. Allerdings dürfte ein gesunder erholsamer Schlaf nur ein Programmpunkt solcher Einkehrtage sein. Denn wenn die aufgewühlte, unruhige, ja manchmal tieftraurige Seele Erholung, neuen Lebensmut braucht, denn ist ein gesunder Schlaf zwar auch ein wichtiger Therapiebaustein, aber eben nur einer.

Dazu kommt die Stille. Zu solchen Einkehrtagen gehört Stille. Im Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ steckt diese Weisheit. Stille, nicht nur weil uns die Ohren dröhnen von dem vielen Lärm und uns die Worte, die Sprüche, die Parolen auch  dann noch durch den Kopf sausen, wenn es draußen endlich einmal ruhig geworden ist und der Fernseher aus ist. Still, still, nicht nur weil`s Kindlein schlafen will. Stille nicht um der Stille, der Leere willen. Das ist ja das Zentrum der östlichen Spiritualität, die aus dem Buddhismus kommt. Dass das letzte Ziel die Leere, das Nichts ist; dass unser Ich sich auflöst wie der Wassertropfen im Meer. In der christlichen Tradition ist Stille nicht Selbstzweck, sondern Voraussetzung für das Hören. Man muss still werden, um hören zu können. Denn für unser Leben, für unsere Seele ist nicht das das Entscheidende, was wir ständig von uns geben an mehr oder weniger gescheiten oder dummen Reden, sondern das Wort, das Gott uns sagt.

In die Stille dieser Nacht hinein fallen wunderbare Worte. Schon dieses erste der Engel: Fürchtet euch nicht! Zuerst einmal, egal was vorher war und was noch kommt: „Fürchtet euch nicht“. Das bläut kein Motivationstrainer seiner hoffnungslos unterlegenen Mannschaft ein, weil er muss, obwohl er selbst längst nicht mehr an den Sieg glaubt. Das ist kein ängstliches Pfeifen im Wald. Das sagen die Engel, die Boten Gottes, hinein in die Schockstarre der Hirten. Das sind vielleicht die Momente, in denen man eine Stecknadel fallen hört. „Fürchtet euch nicht, siehe ich verkündige euch große Freude“. Man hört diesen Satz nicht mehr im Lärm und Dauergequassel, die uns umgeben. So ein Satz wird eingeschmolzen in den Zuckerguss all der lieblich süßen Werbebotschaften, die in unseren Ohren säuseln: Schlaf in himmlischer Ruh. Es muss still werden, damit man wieder hören kann und diese Kraft entdecken, die in einem solchen Satz. Es ist die Kraft des Vertrauens. Deswegen muss man eben einkehren, so wie Sie heute Nacht.

Die Nicht-Skifahrer bitte ich um Entschuldigung, dass noch beim Einkehrschwung bleibe. Es sind ja meistens Hütten, die an den Skipisten zur Einkehr einladen; oft Almen, also auch etwas mit Stall. In den Stall von Bethlehem lohnt es sich besonders einzukehren. Der Stern über Bethlehem führt die Weisen aus dem Orient zu diesem Stall. In dem Lied heißt es: Stern über Bethlehem, wir sind am Ziel, denn dieser arme Stall birgt doch so viel! Du hast uns hergeführt, wir danken dir. Stern über Bethlehem, wir bleiben hier. Wer eingekehrt ist, bleibt gerne länger, wenn es etwas Gutes gibt. Da denkt man zuerst einmal ans Essen (auch wenn die meisten von Ihnen wohl schon satt sind. Früher gab es ja erst nach der Mitternachtsmesse etwas zu essen, wenn man aus der Kirche kam wartete eine reich gedeckte Tafel – es sei denn, einer wie Michel von Lönneberga hatte inzwischen die Armen der Umgebung gespeist. Aber das ist eine andere Geschichte. Das Kind liegt in der Krippe, im Futterkasten der Tiere. Das ist nicht nur Notbehelf für eine Wiege oder ein Kinderbett. Das ist zeichenhaft. Der, der da geboren wurde, ist das Brot des Lebens. Wovon lebt der Mensch (außer vom Essen, Trinken, Atmen, Schlafen). Sagen wir nicht gleich: Liebe, auch wenn es die eigentliche Wahrheit ist. Beginnen wir mit guten Worten. Oder sagen wir: Anerkennung und Lob. Natürlich auch, weil wir uns das manchmal verdient haben. Auch Jesus lobt den treuen Diener, den gewissenhaften Verwalter, den ideenreichen Geschäftsmann. Aber zuerst einmal die Kinder, die noch nichts geleistet haben. Und natürlich muss man von Liebe reden. Die sollen wir ja anschauen in diesem Stall, in diesem Kind.

Noch eins zum Thema Einkehren. Ob man gerne in eine Hütte einkehrt und sich wohlfühlt, hängt auch von den anderen Leuten ab und von der Stimmung, die herrscht. Ich will jetzt nicht von Hüttensause reden und davon, ob der Bär tobt. Normalerweise feiert man am liebsten mit Gleichgesinnten; mit Leuten, die man mag und die auf der gleichen Wellenlänge sind. Im Stall von Bethlehem dürfte das ziemlich anders gewesen sein. Nicht nur, dass das Gegröle das Kind gestört hätte. Das hatten wir schon. Von wegen gleiche Wellenlänge. Hirten aus dem Dorf auf der einen Seite, und Gelehrte, Weise, Weitdahergereiste auf der anderen Seite. Von den einen hatte nie einer eine Schule besucht, die anderen studierten die Sternenkonstellationen in alten Büchern. Die einen wurden oft verdächtigt, wenn ein Schaf fehlte, dass sie es heimlich geschlachtet hätten. Die anderen brachten Gold und Gewürze, die nur mit Gold aufzuwiegen waren. Größer hätte der Gegensatz nicht sein können, und wenn man bedenkt, dass auch Ochsen und Esel mit ihm Stall waren. Aber die Stimmung muss ausgezeichnet gewesen sein, sogar die Englein hörte man singen. Man könnte mit einem Wort sagen: Es herrschte Friede, für einen Moment jener Friede, denn die Engel draußen auf dem Feld verkündet hatten. Ob bei uns hier in der Stadtkirche auch solch Unterschiede und Gegensätze vertreten sind? Auch hier in der Kirche herrscht eine besondere Atmosphäre, vielleicht ein Stückchen von dem Frieden. Besonders, wenn wir dann um den Tisch des Herrn stehen zu seinem Mahl.

Aber zum Thema Einkehren muss ich noch den Spieß herumdrehen. Es geht ja nicht nur um uns als „Späteinkehrer“ in dieser Nacht und in dieser Kirche, dass wir Einkehr finden. Im Adventslied heißt es: Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt, bald wird das Heil der Sünder, der wunderstarke Held, den Gott aus Gnad allein der Welt zum Licht und Leben versprochen hat zu geben, bei allen kehren ein. Das klingt erst einmal nach Kehraus und Großreinemachen, nach Insichgehen, nach Buße, so wie viele eben Ordnung geschaffen haben und aufgeräumt haben vor Weihnachten, wie sie die Räume dekoriert haben mit Zweigen und Lichtern, um einen festlichen Rahmen zu schaffen. Auch wenn manche es nicht mehr geschafft haben, alles aufzuräumen vor Weihnachten, zumindest dort, wo man feiert, da richtet man es schön her, besonders wenn Gäste kommen.

Doch so funktioniert es wahrscheinlich nicht, wenn er, der große Gast, bei uns einkehrt. Dass wir vorher alles aufräumen und in Ordnung bringen können, dass er dann ein intaktes Innenleben in uns vorfindet, eine aufgeräumte Seele, sozusagen einen ausgemisteten Stall, wo alles glänzt und spiegelt wie in der Putzmittelwerbung, eben nur im übertragenen Sinn von Sauberkeit und Reinheit, was ja noch mehr sein soll als nur sauber. Manchmal klingt das so in den Religionen, bis hin zum Kindergebet „Ich bin klein, mein Herz ist rein“. Es muss rein sein, dass Jesus drin wohnen kann. Im Neuen Testament soll Johannes der Täufer den Weg bereiten und mit eisernem Besen den Unrat und Mist auskehren. Der Nikolaus hatte oft den Krampus dabei. Auch der trug einen Besen, eben zum Zeichen, dass er das Böse auskehren soll, bevor der Nikolaus seine Leckereien verteilt.

Ich glaube, dass Jesus anders einkehrt. Denn wir sind doch überfordert, wenn wir vorher, ohne seine Hilfe, ohne seine Vergebung aufräumen sollen. Anders klingt es in einem Pfingstlied, wo es auch ums Einkehren geht: „O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.“ Ich glaube, dass Jesus Christus bei uns einkehrt und schon eingekehrt ist mit jedem „Komm“, das wir gesungen und gebetet haben. „Komm, o mein Heiland Jesus Christ, meins Herzens Tür dir offen ist.“ Ich glaube, dass er nicht nur dort einziehen kann, wo aufgeräumt ist. Ein guter Bekannter, bei dem wir uns entschuldigen, dass solche Unordnung herrscht, entgegnet: Ich räum dir auch nicht auf. Ich finde schon einen Platz. Da wichtigste ist, dass er da ist. Er kehrt ein mit seiner Liebe und Freundlichkeit in unsere geordneten Verhältnisse und in unser Gefühlschaos, in unser Durcheinander und dort, wo wir ganz aufgeräumt sind. Er kehrt ein, wo es weihnachtlich geschmückt ist und dort, wo es ganz unweihnachtlich aussieht. Er kommt in unseren Lichterglanz und in unser Dunkel. So wie es in „Alle Jahre wieder heißt: „Kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus.“ Da ziehen Licht und Frieden zugleich mit ein. Amen



Autor: Dekan Hans Peetz