Mütterlich-göttlicher Trost - Jahreslosung

Jahreslosung im Verlag am Birnbach (Link siehe unten) - Motiv von Stefanie Bahlinger, Mössingen

Jesaja 66,13


Liebe Neujahrsgemeinde,

 

I. Zehn Jahre Bibel in gerechter Sprache

 

Grenzen können schmerzlich aber auch sehr heilsam empfunden werden.

„2016 wird sich das Erscheinen der Bibel in gerechter Sprache zum zehnten Mal jähren.“ [i] Diese Fassung der Heiligen Schrift aus dem Jahr 2006 hat sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, dem Verhältnis von Mann und Frau im Rahmen der Übersetzung gerecht zu werden. Die wichtigste Neuerung ist vor allem die Übersetzung des Gottesnamen Jahwe. Die Lutherausgabe hatte bis zuletzt (1984) das Tetragramm im Deutschen mit HERR wiedergegeben. Das Wort Herr aber ist kein Name, sondern heute eine respektvolle Anrede für Männer. Ursprünglich war es ein Standestitel für Fürsten und Grafen, den die Reformatoren auf Gott übertrugen. Die Bibel in gerechter Sprache hingegen kann unter anderem für Gott auch „die Ewige“ sagen. Denn „was Menschen über Gott und zu Gott sagen, ist ein immer wieder neuer Versuch der Annäherung.“[ii] So unterlegen die Herausgeber und Autorinnen der Gottheit wechselweise auch weiblich und männlich Redeformen: „Er sagte… Sie sagte…“.

 

Die ersten beiden Auflagen dieser Bibel waren schon nach wenigen Tagen vergriffen. Die Kritiken reichten von Begeisterung bis zur völligen Ablehnung. Geblieben ist, die gewohnten männlichen Denkmuster bei der Rede von Gott zu überdenken und die weiblichen Aspekte der Gottheit zu bedenken.

 

II. Grenzen

 

Die sehr unterschiedlichen Reaktionen zeigen, dass Grenzen bei Befürworterinnen und Gegnern überschritten wurden. Frauenrechtlerinnen kämpfen bis heute für die Gleichberechtigung der Frau. In Deutschlands Unternehmen geht es 2016 um einen 30prozentigen Anteil von Frauen in Führungspositionen. Andere Länder ringen darum, dass Mädchen überhaupt Zugang zu Bildung bekommen. Manche der Frauenrechtlerinnen haben mit der „Bibel in gerechter Sprache“ zum ersten Mal überhaupt eine Bibel in die Hand genommen.

 

Umgekehrt haben die Vertreter der anderen Seite hervorgehoben, dass männliche und weibliche Aspekte letztlich nur an der Oberfläche der Dreieinigkeit blieben. Weibliche Formen wie „die Ewige“ empfanden sie als gewollt und als eine Grenzverletzung ihres religiösen Empfindens. Zumal sich die Verfechter der Lutherbibel gelegentlich dem Verdacht ausgesetzt sahen, ein Jahrtausend altes patriarchalisches System zu stützen.

 

Unsere Jahreslosung aus Jesaja 66,13 „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ redet ganz unabhängig von diesen gegenwärtigen Auseinandersetzungen von „Gottes mütterlichen Seiten“[iii]. Jesaja nutzt das Verhältnis von Frau und Mann, genau genommen von Mutter und Sohn, als Leitbild für den göttlichen Trost. Genau müsste es aus dem Hebräischen übersetzt heißen: Wie einen Mann, den seine Mutter tröstet, so will ich euch trösten. Die Grundfrage aber lautet nicht, wie bekommen Männer endlich Trost bei Frauen, sondern wo brauchen Mann und Frau Trost für das Jahr 2016.

 

III. Mütterlicher Trost für Männer?

 

Doch erlauben Sie einem Mann die Frage, wo braucht ein erwachsener Mann von seiner Mutter Trost? In der Zeit des Jesaja war der medizinische Fortschritt lange noch nicht so weit wie heute. Viele Schwangerschaften endeten mit dem Tod der Mutter. Der Vater war dann allein mit seinem neugeborenen Kind (und eventuell mit dessen Geschwistern). Da konnte die eigene Mutter schon ein echter Trost sein, nicht nur weil eine Mutter ihren Sohn in der Trauer über den Verlust der Ehefrau zu trösten suchte, sondern weil sie sich um das Halbwaisenkind kümmerte.

 

Wo bräuchte ein Mann heute Trost? Die Medizin ist inzwischen so weit, dass die meisten Schwangerschaften, wenn sie nicht vorzeitig abgebrochen wurden, gut ausgehen. In Deutschland sterben rund 5 Frauen je 100.000 lebendgeborener Kinder.[iv] In Krisengebieten sind es rund 500 Frauen.

 

Männer verlieren heute ihre Frauen eher so, wie Frauen ihre Männer: durch Trennung. In biblischer Zeit konnte nur der Mann der Frau einen Scheidebrief ausstellen. Heute geht das freilich auch umgekehrt. Dass nicht nur verlassene Frauen Trost brauchen sondern auch verlassene Männer, macht uns das Unglück kurz vor Weihnachten aufs Äußerste deutlich. Ein Mann tötete seine Freundin in Bayreuth, die ihn verlassen hatte, sowie ihren Vater. Außerdem verletzte er den neuen Freund schwer, der sein Leben durch Flucht retten konnte. Danach erschoss sich der Täter wohl selbst. -

 

Können Mütter Söhne trösten, die von ihren Frauen verlassen werden? Sind Frauen nicht in ihren Doppelrollen als Berufstätige und gleichzeitig Mütter überfordert? Nun sollen sie auch noch den Nachwuchs bei Beziehungsproblemen trösten? Und haben nicht manche von ihnen selbst schon einmal eine Trennung herbeigeführt? Ganz abgesehen davon, ob sich Männer überhaupt trösten lassen. Vergleiche schon Jakob in 1. Mose 37,34f..

 

IV. Neuer Mensch und wahrer Gott

 

So trostreich unsere Jahreslosung von den Machern – der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen –  uns zugedacht wurde, birgt sie hinsichtlich unserer gegebenen Geschlechterkonflikte erheblichen Sprengstoff.

 

Die Künstlerin Stefanie Bahlinger aus Mössingen bei Tübingen nähert sich dem Trost, den Jesaja vor Augen hatte von einer anderen Seite. Sie haben das Motiv als Lesezeichen vor sich oder vorne auf der Leinwand. Betrachten wir einmal die beiden großen roten Kreissegmente, die sich im oberen Drittel (etwa im goldenen Schnitt) berühren. Der eine Kreis dehnt sich von der rechten oberen Bildecke aus, der andere von links unten. Mit den Rundungen verstehe ich die Künstlerin so, dass sie damit die Mütterlichkeit ausdrücken wollte. Vielleicht hatte sie junge Mütter vor Augen, deren Brüste durch Schwangerschaft und Geburt geweitet sind. Gleichwohl wir hier schon wieder vorsichtig sein möchten, um Frauen nicht wieder in die klassische Rolle hineinzudrängen[v]: Mütter seien immer weich, um dann zu sagen, selten fordernd und immer verständnisvoll. Nein, die Künstlerin sieht diese von Männern vielleicht erträumte Mutter- oder Erlöserrolle (vergleiche beispielsweise die Rolle Sentas bei Wagners Holländer) durchaus gebrochen. Der rote Kreis ist durch einen dunkelblauen Winkel in der Fläche beschnitten und klar abgegrenzt. Man kann das als Eindringen der Männlichkeit in die weibliche Spähre deuten oder als die männlichen Anteile einer Frau. Ich verstehe es als in sich wohl unterschiedene Einheit von Mann und Frau.

 

Der andere Kreis von oben rechts wird auch von einem Winkel durchdrungen. Ich deute diese 2. Kombination von rund und eckig auf die Trinität Gottes, da ich noch eine weiße Taube im sandfarbenen Quadratausschnitt ausmache.

 

Da die beiden roten Kreise gemeinsam mit den beiden Dreiecken oder Quadratausschnitten ein Kreuz erscheinen lassen, bilden für mich beide roten Kreissegment Christi Liebe ab: Wahrer Mensch und wahrer Gott. Während das sandfarbene Eck Gott Vater zeigt, da in diesem Feld besonders deutlich das zellenartige Grundmuster des Kunstwerks hervortritt und ihn als Schöpfer auch von Mann und Frau erscheinen lässt - über die es doch einst hieß: Siehe, es war sehr gut. (1. Mose 1,26-31).

 

In der Mitte des Kreuzes ist ein dunkler Kreis zu sehen. Für mich ein Zeichen, dass es Momente der Verlassenheit gibt: Dort, wo einst Zärtlichkeit und Wärme geschenkt wurden, ist man um Grenzziehung bemüht, herrscht nun eisige Abweisung. Es gibt Orte, wo das Gefühl vorherrscht, selbst von Gott verlassen zu sein. - Am Kreuz Christi wird der neue Mensch sichtbar, wie ihn Gott gewollt hat: Wahrer Mensch, der um der Liebe willen leidet, Verzicht auf alle Möglichkeiten übt und die daraus oftmals folgende Einsamkeit erträgt.

 

V. Trost im Kreuz - wo sich Grenzen heilsam überschneiden

 

Trost heißt das Kunstwerk von Stefanie Bahlinger. Er entsteht dort, wo die beiden Kreise sich berühren, ja wo sich die beiden Grenzen sogar ein Stück überschneiden. Trost will als behutsame, konkrete Hilfe anbietende Grenzüberschreitung gewagt sein. In der Schnittmenge der beiden Kreise hebt sich auf dem Lesezeichen mit den Fingern spürbar das Gold des Trostes ab. Wo zeigt die Gottheit, wo zeigte Jesus seine mütterlich-göttliche, tröstende Seite? Im Johannesevangelium steht unter dem Kreuz die Mutter Jesu. Sie stand vor dem grausamen Verlust ihres Sohnes. Und was machte Jesus? Statt auf den Trost von der Mutter zu hoffen – "wie einen eine Mutter tröstet" – tröstet der Sterbende sie und vertraut ihr seinen Lieblingsjünger an. Was nicht nur als emotionaler Ersatz zu verstehen ist, sondern auch als soziale Altersabsicherung der Hinterbliebenen; da es ja noch keine Rentenversicherung gab. Ein echter Trost für die Mutter Maria also! Der Gekreuzigte ist seiner eigenen Mutter zur Mutter geworden und zeigte ihr einen Weg aus einer heillosen Situation.

 

Viel gäbe es noch zu sagen und zu entdecken, über die Goldpunkte und -Streifen innerhalb und außerhalb des Trinitätsfeldes zum Beispiel. – Uns möchte Bahlingers Bild Trost am Beginn des neuen Jahres 2016 schenken. Trost für Männer und Frauen, dass uns die dreieinige Gottheit in unserem Schmerz trösten möchte; in dem Schmerz, wenn uns andere Menschen Grenzen aufzeigen, manchmal klar und scharfkantig wie im unteren linken Bildeck, manchmal fließend wie rechts unten. Trennungen und Scheidungen sind ja nur eine Form von Grenzen, die sich Menschen gegenseitig setzen. Grenzen – eigenen und fremde – zu erkennen und anzunehmen kann heilsam sein. Sie wieder zu öffnen braucht lange Zeit, das lehrt uns das Jahr 1989 als Jahr der innerdeutschen Grenzöffnung. Ich denke, die Annahme von Grenzen kann gelingen, wenn wir uns in unseren Einsamkeiten, ob in der Staatengemeinschaft, in unseren Partnerschaften oder als Single, berühren lassen von der heilsamen Dreieinigkeit Gottes, die in Jesus die Todeseinsamkeit durchlitten hat und der sich darin zu unserem Bruder gemacht hat. Er ist den Einsamen wie eine echte liebende Mutter geworden, die einen Weg aus der Verlassenheit weiß. In Christus stimmt es: „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Amen.


[i] Taschner, Johannes, Gottes mütterliche Seiten in: GPM 4/2015, 70. Jhg. H.1, 71.

[ii] Crüsemann, Frank, Einleitung in: Die Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh München 32007, 17.

[iii] Taschner, a.a.O., 71.

[iv] http://www.fidibus-verlag.de/2014/02/10/m%C3%BCttersterblichkeit-in-deutschland-nimmt-zu/

[v] Vgl. auch Taschner, a.a.O., 75



Autor: Pfarrrer Martin Kleineidam