Guter Hirte und Osterlamm

1. Petrus 2, 21b-25


Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen; er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet; der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestor-ben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. Denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.

Liebe Gemeinde,

schon mal Hirte gewesen? Oder: schon mal Schaf gewesen? Kaum jemand von uns hat je als Schäfer oder Schäferin gearbeitet; vielleicht einmal zugeschaut, wenn eine Schafherde irgendwo neben der Straße weidete, oder wenn die Schafe abends in den eingezäunten Pferch getrieben wurden. Wie es dem Schaf geht, was dieses fühlt oder denkt, wenn es überhaupt etwas fühlt oder denkt, konnte sowie noch niemand am eigenen Leib ausprobieren. Und dennoch ist das Bild, der Vergleich mit dem Schaf und seinem Hirten eines der stärksten Bilder unseres Glaubens, so dass es nicht nur in der Bibel häufig vorkommt und einer der Sonntage nach Ostern, in der „österlichen Freudenzeit“ den Beinamen Hirtensonntag trägt, die evangelischen Pfarrer anderswo Pastoren, also Hirten, heißen und in der katholischen Kirche das „Pastoral“ die gesamte Seelsorgetätigkeit und Gemeindearbeit umfasst. Das Bild vom Hirten spricht die tiefsten Schichten der Seele an, es gibt Vertrauen gegen die Angst; drückt Dankbarkeit für das Gute im Leben aus, lässt Schutz und Geborgenheit angesichts von Gefahr spüren. Und das kommt nicht nur daher, dass unsere Urahnen im Glauben sog. Kleinviehnomaden in der Steppe waren, also mit ihren Schaf- und Ziegenherden von einem halbwegs fruchtbaren Fleck in der Steppe zum nächsten zogen und dass diese harte und gefährliche Arbeit nicht nur ihr Leben, sondern auch ihren Glauben prägte: Gott, der Herr, ist mein Hirte. Dieses Bild hat sich tief in die Seele eingeprägt. Selbst wer noch nie einen Hirten oder eine Schafherde gesehen hat, oder wer noch nie ein Schaf gewesen ist, den kann es ansprechen, berühren, dem hat es etwas zu sagen.

Solche starken Bilder haben Kraft. Sie haben viele Aspekte, viele Farben wie das Licht, lassen sich nicht auf eine Bedeutung festlegen. Das wäre eine rationale Verengung, wenn man die Bedeutung mit einem Satz wie in einer mathematischen Gleichung aussagen könnte; nach dem Motto: Hirte ist gleich. Eher ist es so wie bei den kleinen nackten Pärchen auf Handtüchern, Aufklebern, in Poesiealben und sonst wo, die phantasiereich mit fast unerschöpflich vielen Vergleichen sagten: Liebe ist wie… Dass das manchmal ins Kitschige geht, genauso wie bei den alten Schlafzimmerbildern vom guten Hirten, gehört dazu, wenn etwas ans Herz geht und unsere Gefühle anspricht. So ein Bild schillert, weil wir unsere Gedanken und Gefühle, unsere Erfahrungen hineintragen, die Psychologen sagen: projizieren; übersetzt: hineinwerfen; so wie wir unsere Sorgen auf ihn werfen sollen. Und doch sind diese Bilder sehr präzise und klar, weil das Hirtenleben eben eine konkrete Arbeit war mit klaren Aufgaben, zum Beispiel eben die Herde dorthin zu führen, wo es Wasser und etwas zu fressen gab; oder Raubtiere wie Hyänen oder gar Löwen abzuhalten oder abzuschrecken.

Wenn Jesus der Hirte der Seelen, der Seelenhirt, genannt wird, dann verweist der Predigttext auf zwei Züge aus der Schafswelt, die schon im Lied von dem leidenden Gottesknecht beim Propheten Jesaja dazu gehören und für uns damit zur Passion Jesu. „Wir gingen alle in die Irre wie die Schafe“, heißt es dort, oder im Petrusbrief: „denn ihr wart wie irrende Schafe.“ Jesus selbst hat diesen Zug am Hirtenbild herausgenommen und damit seinen Auftrag gezeigt: den verirrten Schafen nachzugehen und sie zurückzubringen. Da geht es nicht um die kuschelige Gemeinschaft von Herdentieren, was ja manchen von uns einfach zu eng werden könnte und gewisse Aversionen gegen das Herdenbild hervorrufen kann. Zumindest damals in der Steppe ging es um Leben und Tod. Denn das wehrlose Tier, das sich von der Herde entfernt hat, wird unweigerlich das Opfer entweder von Raubtieren oder es verdurstet und verhungert.

Dass sich ein Mensch verirrt, verrennt; oder gar eine ganze Gruppe von Menschen; eine Gemeinde, eine Partei, ein Volk oder die große Masse, dafür gäbe es genügend Beispiele. Und da muss man nicht nur an den Drogenkonsum junger Leute denken (die übrigens in der Mehrheit noch nie so asketischen gelebt haben sollen wie heute, das Drogenkonsum einschließlich Alkohol und was das Rauchen betrifft). Anstelle von vielen Beispielen oder auch der Frage, ob und wo wir als einzelne oder als Gruppe uns verirrt haben könnten, lese ich eines meiner Lieblingsgedichte, weil es für mich mehr sagt als diese schnell ins Moralisierende kommenden Beispiele von allen möglichen Verirrungen, die Sie und ich jetzt aufzählen könnten, und worüber wir uns wohl gar nicht einig wären, ob das nun eine Verirrung darstellt oder nur einen ungewohnten, vielleicht etwas eigensinnigen Weg, einen Umweg, der auch zum Ziel führt. Und über andere Verirrungen, zum Beispiel im Namen der Religion Gewalt auszuüben, wären wir uns ja allzu schnell einig. Darum also ein Gedicht (aus: Christine Busta, das andere Schaf):


Die frommen Lämmer fanden mich stets arg.
Doch keiner hat viel Müh an mich verloren.
Und regelmäßig war ich eines nur: geschoren.
Der Stall war schlecht und meine Weide karg.

Der Wachthund lag beim Feuer, satt und schlief,
der Wolf hat nur im fetten Pferch gestohlen.
Sie suchten mich auch nicht und kamen nie mich holen,
wenn ich mich um ein Hälmchen Gras verlief.

So blieb ich eines Tags für immer fort:
ein Schaf, allein und fremd den fremden Tieren,
verirrt und siech, doch immer noch auf allen Vieren
und heimlich hoffend auf ein Hirtenwort.

Nun hat der Winter jede Spur verweht.
Es zischt der Schnee: „Er hat sein Wort gebrochen.“
Doch sterbend hör ich, tief in nasses Laub verkrochen,
wie draußen einer unaufhörlich näher geht.

Das Entscheidende ist aber nicht, das sich das Schaf verirrt hat, sondern dass da einer ist, der sucht, hinterher geht, nicht aufgibt und schließlich findet, zurück bringt, ja: rettet. Nun wird aber dieser Retter nicht nur als der gute, mutige und aufopferungsvolle Hirte beschrieben, der nicht wegläuft, sondern kämpft; schon gar nicht wie die falschen Hirten, die von den anvertrauten Tieren eins nach dem anderen schlachten, um sich den Bauch voll zu schlagen. Der Retter, der gute Hirte – und da gerät die Bildwelt durcheinander (was mich immer ärgert, wenn die Bilder nicht stimmen, wie bei dem Lied: wenn das rote Meer grüne Wellen hat). Jesus Christus ist das Lamm, das seinen Mund nicht auftut. Auch dieser Zug stammt aus dem Lied vom leidenden Gottesknecht. Wahrscheinlich steht da ursprünglich das Scheren dahinter. Ob das immer so ohne Gegenwehr abgeht, so widerstandslos und ohne Blöken, bei uns im Sommer, wenn dann die Schafskälte im Juli die nackten Tiere plötzlich frieren lässt, bevor das Fell nachwächst. Auf jeden Fall sehen wir da ein Schaf, das über sich ergehen lässt „wie ein Schaf“, so wie es eben sprichwörtlich geworden ist. Das Schaf wehrt sich nicht, es hat keine scharfen Zähne wie der Hund und keine Krallen wie die Katze. Mit ihm kann man es ja machen. Das Schaf, das Lamm wird zum Opfer, sein Verstummen zum „Schweigen der Lämmer“. Dass bei uns an Ostern auf vielen Tischen Lammbraten serviert wird, geht auf das Passalamm zurück. Beim Frühlingsfest opferte man eines dieser jungen Tiere, die wahrscheinlich nur für uns so niedlich und possierlich wirken; vielleicht hatte auch dieses saubere, weiße Fell damit zu tun, Zeichen von Reinheit, Unschuld – jungfräulich. Welch ein Kontrast, wenn das ausströmende Blut dieses weiße Fell blutrot färbt.

Das ist das Besondere an unserem Predigttext, sein spezieller Beitrag zum weit verbreiteten Hirtenbild. Der Seelenhirt ist zugleich das Schlachtschaf. Und dies korrigiert alle möglichen romantischen, aber auch autoritären Züge des Hirtenbildes. Als es bei uns keine Wölfe mehr gab und keine Problembären auf sanften hügeligen Weiden, wo keine Abgründe drohten und keine Abstürze, da konnte man das Hüten Kindern und jungen Mädchen übertragen, die sich draußen ins Gras legen konnten neben den friedlich grasenden Tieren, den Wolken nachsehen, ihre Lieder singen, oder wenn sie das entsprechende Alter erreicht hatten, Besuch empfangen bis hin zum „Schäferstündchen“. Aber auch das ist nicht nur romantische Verklärung. Das kommt aus einer tiefen Sehnsucht, die sich mit dem Bild vom Hirten und seiner Herde verbindet. Erholung für Leib und Seele, Singen, Entspannen, Liebe, auch das gewährt der Seelenhirte, der auf die grüne Aue und zum frischen Wasser führt.

Der Hirte, der zugleich das Schlachtschaf ist, korrigiert auch die Projektionen von Macht und Autorität, die gerne mit dem Hirtenbild verbunden werden, ad absurdum geführt wird, wenn da eine Herde dummer Schafe sein soll, die einen braucht, der als einziger weiß, wo es lang geht, und die ihm willenlos und blind folgen, vielleicht noch zusammengehalten und zusammengebissen durch die Wachhunde im Dienst des Führers. In diesem Sinn ist die christliche Gemeinde, die Kirche keine Schafherde, die von einem Pfarrer oder Bischof geführt wird. Es ist schon gut, dass Gott, dass Jesus Christus der Hirte ist. Ob allerdings der Titel Pfarrer, der vom Pfarr-Herren kommt, besser ist als der des Pastors, bleibt noch die Frage. Sicherlich kann diese Autoritätskritik nicht dazu führen, wie es gerade in der Kirche nach 1968 sich breit machte, Leitung und Führung, Autorität, ja Macht insgesamt schlecht zu machen und für die Kirche als untauglich zu verleugnen; die Kirche als antiautoritäre Zone, das wäre weltfremd; und unter dem Deckmantel des Dienens wird gerne und sehr subtil Macht ausgeübt, bis hin zur Erpressung: „das kannst du mir doch nicht antun, wo ich mich so für dich aufopfere“. Vielleicht hilft gegen dieses Missverständnis des wissenden Hirten und der dummen Herdentiere, das geschichtlich eskalierte in dem Satz „Führer, geh du voran, wir folgen dir“, allein schon die Beobachtung, dass echte Schäfer meist hinter der Herde hergehen. In der Gemeinde und der Kirche gibt es klare Führungs- und Leitungsaufgaben, und die Gemeinschaft leidet, wenn diese vernachlässigt werden. Aber gerade die Hirten und Hirtinnen, die Pastoren und Pastorinnen brauchen nicht nur den einen Seelenhirten, sondern Brüder und Schwestern, die ihnen den Hirtendienst tun, sie zu beraten, trösten, an den Karren zu fahren oder sie auch Mal in Erholung zu schicken.

Also, liebe Gemeinde, waren sie schon einmal Hirte? Waren sie schon einmal Schaf? Recht verstanden sind wir immer wieder beides. Unser Herr und Bruder Jesus Christus ist ja auch beides, der gute Hirte und das Osterlamm. Amen



Autor: Dekan Hans Peetz