Andere Räume, andere Zeiten, anderer Geist

Philipper 1,3-11


(3) Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke – (4) was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten für euch alle, und ich tue das Gebet mit Freuden -, (5) für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tage an bis heute; (6) und ich bin darin guter Zuversicht, dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird's auch vollenden bis an den Tag Christi Jesu.

 

(7) Wie es denn recht und billig ist, dass ich so von euch allen denke, weil ich euch in meinem Herzen habe, die ihr alle mit mir an der Gnade teilhabt in meiner Gefangenschaft und wenn ich das Evangelium verteidige und bekräftige. (8) Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlangt von Herzensgrund in Christus Jesus.

 

(9) Und ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung, (10) sodass ihr prüfen könnt, was das Beste sei, damit ihr lauter und unanstößig seid für den Tag Christi, (11) erfüllt mit Frucht der Gerechtigkeit durch Jesus Christus zur Ehre und zum Lobe Gottes.

 

I. Geschenke und Dank

 

Liebe Gemeinde,

 

Gelegentlich taucht man in Räume und Gemeinschaften ein, da geht es so anders zu, als man es gewohnt ist. Da spürt man eine Herzlichkeit und Offenheit im Umgang und im Ton. Da wird auf der einen Seite mit Einfühlungsvermögen das geschenkt, was der andere wirklich braucht; und auf der anderen Seite wird gedankt im Kosmos Gottes und im Geist Jesu Christi.

 

Wie anders sind manchmal unsere Erfahrungen. Im Magazin der Süddeutschen Zeitung gibt es eine Rubrik, in der ein gelernter Jurist Fragen des Alltags beantwortet. In letzter Zeit wird dieser Berater mit Geschenkefragen konfrontiert: Z. B. wie geht man mit einem Geschenk um, bei dem man durch Zufall herausgefunden hat, dass es der Geber selber von jemanden anderen erhalten hat. Dieses offensichtlich nicht nötig hatte und es gleich weitergeschenkt hat. Die alte Grußadresse hatte er sogar noch vergessen vorher zu entfernen. Es war klar, die Person hatte ihr Geschenk sozusagen beim Freund entsorgt.

 

Ich hatte letzte Woche Taufeltern bei mir, die erzählten mit leuchtenden Augen von ihrer Kanadareise letztes Jahr. Vor allem eine Lioba hatte sie sehr beeindruckt. Die lud die für sie fremden Menschen einfach zu sich nach Hause ein. Sie durften gleich ein paar Tage bei ihr übernachten. Wie in einer anderen Welt fühlten sie sich als sie Sätze hörten wie: „Hier hast Du mein Auto. Schaut Euch den Nationalpark an.“ Was für Geschenke an Freundlichkeit und Entgegenkommen haben meine Taufeltern erfahren dürfen!

 

II. Etwas fehlt

 

Ja, manchmal tun sich Räume und Zeiten auf, da denkt nicht nur dieses Paar ans Wegziehen aus Europa. Ich kenne diese Freundlichkeit aus den USA noch vor der Zeit des 11. September 2001, also bevor Terroristen zwei Flugzeuge ins World Trade Center geflogen haben und das Sicherheitsgefühl bei den Menschen des Westens Schaden gelitten hat. Kanada kennt diesen Missbrauch von Freiheit und Freundlichkeit offensichtlich nur wenig. Wenn man eine Karte bei der Fußgängerampel aufschlägt, umringen einen Menschen, um einem zu helfen, den richtigen Weg zu finden.

 

In so eine Stadt muss Paulus ins antike Philippi gekommen sein. „Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke.“ schrieb der Apostel an die Philipper. Es fällt auf, der Dank geht nicht direkt an sie. Der Dank macht einen Umweg über Gott. „Meinem Gott“ sagt Paulus Dank und meint nicht einen Besitz, sondern ein Verhältnis zum Himmel, das er mit den Philippern teilt. Denn das Wachstum im Glauben zielt auch bei den Philippern offensichtlich auf Ehre und Lob Gottes, wie Paulus am Schluss unseres Abschnitts deutlich macht. „Gott sei Dank“ sagen wir – manchmal vielleicht unbesonnen dahingesagt.

 

Häufig erleben wir aber ein „Danke“, wenn wir überhaupt noch eines erleben, das pflichtschuldig gemacht wird. Vielleicht ist diese Pflicht auch ein Echo auf jahrelange Pflichtgeschenke zu Weihnachten oder zu Geburtstagen. Mit René Descartes haben wir gelernt: „Ich denke, also bin ich.“ Diese Denke hat sich auch auf das Danken niedergeschlagen. Seit dem 17. Jahrhundert ist unser Sein von Rationalität geprägt. So ist es eben vernünftig, sich etwas zu Weihnachten zu schenken. Geschenke erhalten schließlich die Freundschaft. Allerdings fehlt etwas, wenn Geschenke zur Funktion werden.

 

III. Fehlende Herzlichkeit und Anerkennung

 

Selbst der Pragmatiker aus der Beratungsspalte des SZ Magazins meint, dass man schenken sollte, ohne genau „zu berechnen und vor allem ohne viel Aufhebens“[i] zu machen. Aber letztlich ist auch die Berechnungslosigkeit beim Schenken zu wenig. Es fehlt doch allenthalben die Herzlichkeit, wie sie bei Paulus mitschwingt. „weil ich Euch im Herzen habe.“ Paulus eröffnet mit Gott einen Dankesraum, er betet für die Gemeinde mit Freude, allezeit, wenn er an sie denkt. Das Herz erscheint bei Paulus also als ein Organ, das weit über Raum und Zeit, ja in die Ewigkeit Gottes ausgreifen kann.

 

Dabei[ii] ist die Situation des Apostels keineswegs günstig. Er befand sich zur Abfassung des Briefes in Gefangenschaft, wie wir erfahren. In dem gemeinsamen Gottesraum der Herzlichkeit kann man auch schwierige Dinge ansprechen. Paulus ist wahrscheinlich in Ephesus durch seine offene Predigt des Evangeliums in Konflikt mit den Behörden geraten und musste ins Gefängnis. In unseren Breiten hört man bei ähnlichen Gelegenheiten schon mal: „Häsd hald deinen Mund ned so weid aufg´machd. Jedzad mussd hald die Subbm auslöffln, dies da abroggd hasd!“ Gelegentlich muss man daher schon aufpassen, wem man etwas anvertraut, wenn etwas schief gelaufen ist, damit man am Boden nicht noch in den Schmutz getreten wird. Diesbezüglich hat Wolfgang Buck beispielsweise über die Clubfans gesungen. Wenn der Club verliert, zünden die Fans ihre Fahnen an und sagen, „Der Club is a Depp.“ Mir ist dieser Umgang mit Menschen, die verloren haben, stets fremd geblieben.

 

Was fehlt scheint allenthalben die Wertschätzung. Man kann nur mutmaßen, ob auch die Clubfans in ihrem Alltag zu wenig Anerkennung bekommen, sonst würden sie so doch nicht reden.

 

IV. Koinonia in Not bringt eine andere Zeit hervor

 

Paulus befand sich zwar in Ketten (1,7), aber im Raum geistlicher Einheit mit den Philippern dankt er für deren „koinonia“. Luther übersetzt „koinonia“ mit Gemeinschaft. Konkret kann das auch Hilfeleistung bedeuten und meint hier insbesondere finanzielle Unterstützung, die Paulus von den Philippern erhalten hat. Bei anderen Gemeinden wie den Korinthern weist er solche Geldgeschenke ab[iii] aus Sorge, dass ein Annehmen von Geschenken ein Hindernis für das Evangelium Christi sein könnte.

 

In dem Beziehungsraum „Apostel-Gott-Philipper“ tickt eine andere Uhr. Die Koinonia in der Not bringt eine andere Zeit hervor. Zweimal ist von dem Tag Christi die Rede (1,6.10). Mit der Taufe und mit der Predigt von der Hoffnung, dass es ein Leben nach dem Tod geben wird, hat Gott einen Neuanfang gemacht. Darüber sind sich Paulus und die Philipper offenbar von Herzen einig. Der Tod ist nicht mehr der, der die Zeit angeben darf, wie das Gerippe mit Glocken bei der astronomischen Uhr im Liebfrauenmünster in Straßburg, an dem Kind und Greis vorbeiziehen müssen. Eine neue Zeit war für die Menschen in Philippi angebrochen, die auch in die Zeit der Gefangenschaft hineinreicht. Freilich steht in dieser Situation der Haft die Vollkommenheit noch aus.

 

V. Frucht und Erfolg der Liebe

 

Aber in Christus ist nicht nur ein anderer Raum vorhanden, nicht nur eine andere Zeit angebrochen, sondern auch ein anderer Geist hat Einzug gehalten. Paulus betet darum, dass die Liebe der Philipper im reicher werde an Erkenntnis und Erfahrung. Das ist nun ein ganz erstaunlicher Satz. In der westlichen Geistesgeschichte gibt es mit Platon und Aristoteles zwei Wege, um zum Wissen zu gelangen. Nach Kant gibt es den Erkenntnisweg vor aller Erfahrung (a priori) der mit Descartes allein im Denken liegt. Und es gibt den Weg, Wissen über die Erfahrung zu erlangen (a posteriori). Wenn man so will sind damit die zwei Zugänge zur Wirklichkeit gemeint über Theorie oder Praxis. Ich weiß, ja nicht wie Sie, liebe Gemeinde, an die Welt herangehen. Denken Sie lieber erst einmal über eine Sache nach, bevor Sie sie beginnen? Oder probieren Sie die Sache ersteimal aus und ziehen dann ihre Schlüsse? Beide Wege haben ihre Vorzüge und Nachteile. Bei Paulus schaltet nun der Erkenntnis und der Erfahrung nicht etwa den Zweifel vor, wie Descartes es tut, sondern die Liebe. Als liebender - oder lassen Sie es mich mit dem Evangelium sagen - als geliebter Mensch, der zum liebenden sich verwandelt, erkennt man erst die Welt richtig. Und erst als Kind Gottes macht man die Erfahrungen, die zu einem Urteil anleiten, nicht nur das Gute, oder Bessere, sondern das Beste zu finden. Als Kind Gottes hält man nicht jeden Wahnsinn für ein „Gedanken-Gut“, wie man in einer Zeitung über die rückwärtsgewandten Ideen der Reichsbürger lesen musste.[iv]

Als Kind Gottes setzt man sich auch nicht jeder Erfahrung aus, so nach dem Motto, auch schlechte Erfahrungen schaden nicht. Nein, die können schon Schaden anrichten. In meiner Jugend hörte ich außerhalb meiner Familie gelegentlich den Satz: „Eine Tracht Prügel hat noch keinem geschadet.“ Wo so ein Satz gepflegt wurde, hagelt es heute Anzeigen wegen Misshandlungen von Kindern.

Paulus wünscht in seinem Dank an die Philipper, dass sie - nicht in der Stunde ihres Todes - sondern am Tag Christi, wie er diesen Zeitpunkt nennt, mit dem ganzen Erfolg, der ganzen Frucht der Gerechtigkeit erfüllt sein mögen. In diesem Abschnitt wird deutlich, dass Gerechtigkeit, Herzlichkeit und Liebe nahezu austauschbare Begriffe sind.

 

Dass die Gerechtigkeit Gottes Sie, geliebte Gemeinde, zu dieser Fülle an besten Erfahrungen und segenreichstem Wissen führen möge, das wünsche ich Ihnen mit dem Apostel Paulus von ganzem Herzen. Amen.

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

 


[i] Erlinger, Rainer, Gewissensfrage, in: SZ Magazin Nr. 42, 21.10.2016, 10.

[ii] Einige Gedanken der Predigt sind angeregt durch Krebs, Andreas, Kirche als beziehungsreicher Zwischenraum, zum 23.10.2016, 22. So. n. Trin., in: GPM 3. Vierteljhh. 2016, 70. Jhg. H.4, Göttingen 2016, 477-482. Insbes. erschien mir zum 5. Teil der Predigt der Literaturverweis in Anm. 9 ebd. nachgehenswert: Engelen, Eva-Maria, Erkenntnis und Liebe. Zur fundierenden Rolle des Gefühls bei den Leistungen der Vernunft, Göttingen 2003, 88.

[iii] Vergleiche 1. Korinther 9, insbesondere Verse14-18.

[iv] Der Nordbayerische Kurier zitiert über den Münchner Merkur einen Sprecher aus dem Innenministerium, NbK, Ausgabe vom 21.10.2016, Nr. 245, 49 Jhg., 1

 

 



Autor: Pfarrer Martin Kleineidam