Die eine Geschichte, die sich mit unseren Geschichten verbindet - Weihnachten

Johannes 3,16f.


Liebe Gemeinde,

 

I. Eigentlich eine frohe Zeit

 

Eigentlich ist Weihnachten eine frohe Zeit: Kerzen und Lampen schenken Licht in der Dunkelheit. Goldglänzender Schmuck, Sterne und Schwibbögen lassen Fenster, Häuser und Kirchen feierlich erstrahlen. Die Geschenke machen Kinderaugen leuchtend. Weihnachten ist eigentlich eine frohe Zeit

 

II. Die Geschichte „Vereinsamt“ von Ludwig Anzengruber

 

Eigentlich! Mir fällt es dieses Jahr schwer in einen unbeschwerten Heiligen Abend zu finden. Letztes Jahr waren es die Anschläge von Paris, die einen Schatten auf das Weihnachtsfest geworfen haben. Doch längst ist der Terror in Deutschland angekommen. Das Attentat in Berlin diese Woche mit 12 Toten und vielen Schwerverletzten ausgerechnet auf einem Weihnachtsmarkt bildet einen traurigen Höhepunkt in diesem Jahr. Zum Frohsein gehört, dass man in einem freien Land lebt, wo die Menschenrechte von allen beachtet und hoch gehalten werden z. B.: Die Unversehrtheit der Person und das Asylrecht. Beide Rechte werden mit jedem Terroranschlag verletzt und vielfältig missachtet. Aber vielleicht kann man diese Verbrechen noch wegschieben – heute Abend wenigstens. Macht Weihnachten wenigstens alle in Bayreuth froh und die Erwartungen auf dieses Fest leuchtend schön? Letzte Woche haben meine Frau und ich Trauerfeiern für 5 Menschen gehalten. Zwei von den fünf Personen haben sich das Leben genommen, ein alter Mensch und ein junger Erwachsener. Macht Weihnachten alle froh? Für viele gilt das noch immer, die meisten, alle wohl nicht. Ich möchte mich mit Ihnen, liebe Heilig Abend Gemeinde, auf die Suche begeben, das Frohsein wieder zu finden. Das wird wohl nicht ohne Umweg gehen. Ich kenne einen“ sagt Ludwig Anzengruber in seiner Geschichte „Vereinsamt“, „Ich kenne einen, der die Weihnachtszeit fürchtet.

 

„Er hat seine Wohnung neben der meinen, ist ein noch ziemlich junger, hochaufgeschossener Mensch, den man immer gleich still, ernst und bescheiden seiner Wege gehen sieht. Auf einen freundlichen Gruß oder ein Scherzwort erwidert er wohl mit einem verbindlichen Lächeln, aber er scheint jede Annäherung zu vermeiden. Was seine Stellung anbelangt, so soll er in einer der vielen Teehandlungen Buch und Korrespondenz führen.

 

Jahrüber war er der gleich höfliche wie freundliche Nachbar, bis jenes Fest herankam, das man bezeichnend Christabend nennt, denn der Tag zählt nicht, alles bis zum Abend ist Erwartung, ungeduldige, still träumerische oder behaglich vorkostende je nach Temperament, aber immer nur Erwartung; kam dieser Festabend heran, dann wich der Mann jeder Ansprache aus und bezeigte sich fast menschenscheu.

 

Es ist früh am Morgen, fahles Licht fällt durch die Gangfenster, die Treppe, die in Krümmungen von Stockwerk zu Stockwerk läuft, liegt noch im Dunkel, der Nachbar steht vor seiner Türe und schließt sie eben hinter sich ab. (…)

 

Der Mann eilt in das Geschäft, hastig durchschreitet er schmutzige Nebengässchen, biegt von allen belebten Straßen ab und erreicht auf einem Umweg die Handlung, in der er bedienstet ist, dort setzt er sich an sein Pult, nimmt die Feder zur Hand, rechnet, schreibt, blättert in den Büchern und sieht nicht auf, bis gegen Abend – früher als sonst an irgendeinem Tag im Jahr – der Laden geschlossen werden soll, dann legt er seufzend die Feder hin, zieht den warmen Winterrock über, nimmt den Hut vom Haken und tritt hinaus in die Dämmerung.

 

Wieder nimmt er den Weg durch die Nebengässchen, aber so menschenleer es dort auch ist, hie und da hüpft doch ein Kind mit munteren Äuglein über den Weg. (…)

 

Vor seiner Wohnung angelangt, zieht er bedächtig den Schlüssel aus der Tasche, öffnet, tritt ein, sperrt hinter sich ab und geht nach dem im Halbdunkel liegenden Zimmer. Helle Steifen von der Straßenbeleuchtung fallen durch die Fenster, liegen über der Wand und zittern an der Decke, in dem dämmernden Raum geht er in kurzen und hastigen Schritten ein paarmal auf und nieder, dann, als versagten ihm die Füße, wirft er sich müde auf den Diwan. Er deckt die Augen mit den Händen und stützt den Kopf darein und seufzt tief auf.

 

Vor vier Jahren war es gewesen, da leuchtete in seiner Stube ein Baum, ein übermütiger Knirps kutschierte mit einem kleinen Wägelchen rasselnd auf und nieder, und auf dem Arm einer niedlichen Frau guckte ein Kleinstes mit groß, gar groß aufgerissenen Augen in die Lichter, es streckte die Ärmchen darnach und zog sie lächelnd wieder zurück.

Und vor drei Jahren, da tollte der Knirps wieder durchs Zimmer, aber die Frau saß neben dem Mann auf dem Diwan, und sie drückte seine Hand, und sie sah mit feuchten Augen lächelnd nach dem Kleinen. >Unser Einziger – der ist ja noch da!<

Und wieder ein Jahr, da leuchtete kein Baum in der Stube, da war es düster wie heute, aber in seiner Hand lag eine andere, an seiner Wange lehnte eine andere Wange, erfühlte die Wimpern des nahen Auges seine Schläfe streifen, und feucht rann ein Tropen nieder. >O liebes Weib -<

Und noch ein Jahr – ja da war es ganz wie heute – es überkommt ihn, als sollte er sich über das Kissen des Diwans werfen, die Hände vors Gesicht geschlagen, … aber er erhebt sich langsam, tritt an das Fenster, er schiebt die Riegel zurück, er öffnet einen Flügel und lehnt sich hinaus in die stille Nacht.“

 

(Auszüge aus: Ludwig Anzengruber, Vereinsamt, in: Weihnachten, Erzählungen aus alter und neuer Zeit ausgewählt von G. Natalis, Frankfurt a. M. 1980, 232-234)

 

III. Welt ging verloren

 

Ja, so kann Weihnachten auch sein. Da ist manch einem zum Heulen zu Mute. Da möchte man sich aufs Sofa werfen und weinen. Der Mann in der Geschichte von Anzengruber hatte zunächst eine beschauliche Familie mit zwei Kindern. Dann muss wohl das Jüngste verstorben sein. Ein Weihnachten zu Dritt folgte. Im nächsten Jahren sind auch Frau und das verbliebene Kind weg. Eine andere Frau hat deren Platz eingenommen. Nach einem weiteren Jahr ist er an Heilig Abend ganz allein. – „Vereinsamt“ hat Anzengruber die Geschichte genannt. Und wir singen nachher „Welt ging verloren“. Die Verlorenheit muss man dieses Jahr wohl neu hören beim O du fröhliche.

 

Welche Welten gingen unter uns verloren? Diese Einsamkeit und Verlorenheit fürchten wir alle, weil jeder sie irgendwo kennt. Irgendwann einmal wenigstens im Ansatz haben wir sie erfahren. Und seither ist sie da die Angst, vergessen, einsam und verloren zu sein. Welt ging verloren, nicht nur für den Angestellten in der Teehandlung, nicht nur für die Hinterbliebenen der Terroropfer in Berlin und der Gestorbenen in Bayreuth.

 

Mit Menschen wie dem Mann aus der Geschichte finden wir uns vor der Krippe ein, um den frohen Mut wieder zu finden. Vielleicht muss man nochmal kommen heute Nacht um 23 Uhr in die Stadtkirche. Da singen wir das Lied von Paul Gerhard: Ich steh an deiner Krippen hier. Der Pfarrer hatte seine Frau und 5 seiner 6 Kinder verloren. In seinem Weihnachtslied heißt es „Ich lag in tiefster Todesnacht.“ Um dann von dem Liederdichter zu hören. „Du warest meine Sonne.“ Wenn auch bei mir nichts mehr leuchtet: „Wie schön sind deine Strahlen.“

 

IV. Einziggeboren zur Rettung

 

Paul Gerhards Lied ist ganz in Moll gehalten, wie auch die Geschichte von Anzengruber Traurigkeit atmet. Es ist eine Melodie, die das Leben derer zum Klingen bringt, die sich heute verlassen vorkommen oder die geliebte Menschen vermissen oder sich für die gerechte Sache der Getöteten und  Flüchtenden einsetzen oder in irgendeiner Form an der Liebe leiden. Doch führt die Musik zu einem einmaligen Geschenk, wie es beim Evangelist Johannes zu hören ist. Er hat für die, die sich verloren und vergessen vorkommen und für die, die von der Verlorenheit bedroht sind, er hat für uns alle die Weihnachtsgeschichte in einer sehr kurzen und knappen Form geschrieben: (3,16f.) Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Das also ist die Weihnachtsgeschichte, um die sich unsere Geschichten ranken. Das ist das rettende Ereignis schlechthin: Gott schickt seinen Sohn in die Welt. Eingeboren wie es heißt, einzig wie das Kind, das der Familie in der Geschichte von Anzengruber einst geblieben war. Sein einziges Kind gibt Gott hin, die Welt zu retten. Der Bund für Geistesfreiheit fragt: Was ist das für ein Gott? Um ihn im gleichen Atemzug zu verneinen. Fragen wir tiefer: Was ist das für eine Liebe? „Christ ist geboren“, ein Menschenkind einzigartig in seiner Bedeutung für den Kosmos: Er wird die Menschen nicht richten, sondern retten. Nicht unser menschliches Urteil über das eigene Leben soll zählen, dass unsere Zeit verlorene Zeit sein könnte. Gottes Sohn ist einziggeboren zu unserer Rettung.

 

Auch nicht das vernichtende Urteil eines Menschen über den anderen, nicht die Menschenrechtsverletzungen sollen in den Tagen des Terrors den Sieg davon tragen und sich durch Angst, Rache oder Abschottung tausendfach vermehren. Gott will die Welt retten. Die Verheißung v. diesem eingeborenen Sohn u. Retter bleibt ungebrochen wichtig für diese Welt.

 

V. Anschaulich gemacht zum Leben - Es weihnachtet

 

Mit diesem Sohn Gottes kommt ewiges Leben in die Welt. - Um Gottes willen keine ewige Verlängerung der Verlorenheit! - Bei Joh. meint ewig einen neuen göttlichen Raum, wie er sich mit dem Christkind eröffnet hat. In diesem Kosmos leuchtet ein neuer Äon auf. Der eingeborene Sohn ist das Weihnachtsgeschenk schlechthin. Mit diesem Kind öffnet sich der Himmel: Gott geht ein in die Verlorenheit, wird in einem Kind anschaulich, damit wir der verheißenen Rettung Glauben schenken, leben können. Gott möchte sich für die ganze Erde fassbar machen. Er legt seinen Sohn in die Verlorenheit dieser Welt. Möchte heute eine Krippe in den Herzen derer machen, die auf dem Sofa sitzen und am liebsten ihre Hände vor das Gesicht schlagen. Er will mit diesem Kind seine Herrlichkeit in uns aufleuchten lassen, die trauern, sich verloren und verlassen vorkommen. Denn mit dem Sohn der Ewigkeit bleiben wir mit Entschwundenen und Verstorbenen eine Gottesfamilie. Durch dieses Kind sind wir Gottes Kinder und hier eine Familie. Das die Äonen umfassende Licht der Ewigkeit möchte aus unserer Zeit eine frohe Zeit machen. Es weihnachtet, wenn sich die eine Geschichte, wenn sich Gottes Liebe in diesem Kind mit unseren Geschichten verbindet. Also hat Gott die Welt geliebt. Amen. Nun wollen wir es versuchen, und in das Lied einstimmen „Nun singet und seid froh“.

 

 



Autor: Pfarrer Martin Kleineidam