Von der Mensch- und Vaterwerdung

Johannes 4,46-54


Liebe Gemeinde,

I. Wahrzeichen

 

Wahrzeichen lassen auf eine tiefgründige und verborgene Schönheit schließen.

Das sind Durins Wahrzeichen![i] rief Gimli, einer der neun Gefährten um den Helden Frodo Beutlin aus dem Buch von J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe. Der Zwerg stand mit seinen Freunden vor einem verschlossenen Felsentor der Minen von Moria, einem Eingang zu einem Zwergen-Reich, der sich nur im Mondlicht zu erkennen gab. Der Zauberer Gandalf strich mit seinen Händen über die Felsenwand und murmelte Zauberwörter. Da erschienen schwache Linien wie dünne Silberadern. Die Umrisse einer verzierten Tür wurden sichtbar: Mann konnte (…) eine Krone mit sieben Sternen sehen. Und darunter zwei Bäume, die Mondsicheln trugen. Deutlicher als alles andere schimmerte in der Mitte der Tür ein einziger Stern mit vielen Strahlen.

In dem dreibändigen Werk von Tolkien gibt es zum Leidwesen vieler Kinder nur wenige Bilder. Dieses Tor aber hat Tolkien gemalt. Es war ihm als Wahrzeichen offenbar sehr wichtig. Man sollte zwar in Phantasieromane nicht zu viel hineindeuten, aber die Wahrzeichen der drei Hauptreligionen sind doch sehr augenfällig: Die sieben Sterne für den siebenarmigen Leuchter. Die liegenden Halbmonde stehen für den Islam und der eine Stern mit einem Kreuz in der Mitte zeigt das Wahrzeichen des Christentums und der Epiphaniaszeit. Wer meint, diese Interpretation sei etwas weit hergeholt, kommt vielleicht ein bisschen ins Nachdenken, wenn man sich klar macht das Jerusalem und der alte Salomonische Tempel auf dem gleichnamigen Berg Moria gebaut wurden. „Das sind (…) Wahrzeichen!“ rief Gimli.

 

II. Wahrheit des Menschseins

 

Und zugleich standen die neun Gefährten vor dem Problem, wie diese Tür zu öffnen sei. „Sprich, Freund, und tritt ein.“ Lautete das Rätsel auf der Tür. Ein Zauberer wie Gandalf versucht es mit elbischen Zauberworten; denn die Tür, da waren sich alle einig, sollte mit Worten bewegt werden. Eine ähnlich rätselhafte Geschichte findet sich im Johannesevangelium wie zum Beispiel 4,47-54. Auch hier geht es um ein Wahrzeichen. Wir hören den Abschnitt in der neusten Lutherübersetzung von 2017:

(46) Und Jesus kam abermals nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte. Und es war ein Mann im Dienst des Königs; dessen Sohn lag krank in Kapernaum. (47) Dieser hörte, dass Jesus aus Judäa nach Galiläa gekommen war, und ging hin zu ihm und bat ihn, herabzukommen und seinen Sohn zu heilen; denn der war todkrank. (48)

Da sprach Jesus zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht. (49) Der königliche Beamte sprach zu ihm: Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt!

(50) Jesus spricht zu ihm: Geh hin, dein Sohn lebt! Der Mensch glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm sagte, und ging hin.

(51) Und während er noch hinabging, begegneten ihm seine Knechte und sagten: Dein Kind lebt. (52) Da fragte er sie nach der Stunde, in der es besser mit ihm geworden war. Und sie antworteten ihm: Gestern um die siebente Stunde verließ ihn das Fieber. (53) Da merkte der Vater, dass es zu der Stunde war, in der Jesus zu ihm gesagt hatte: Dein Sohn lebt. Und er glaubte mit seinem ganzen Hause.

(54) Das ist nun das zweite Zeichen, das Jesus tat, als er aus Judäa nach Galiläa kam.

 

Eine Wundergeschichte scheinen wir vor uns zu haben, bei der man sich über Jesus nur wundern kann: Ein Mann im Dienst des Königs[ii] kommt mit einer Bitte zu Jesus. Sein Sohn ist todkrank. Ihn soll er heilen. Und was macht Jesus? Er konfrontiert den Königlichen mit seinem Unglauben: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.

In unseren Seelsorgekursen im Predigerseminar wäre der Nazarener mit solch einem Umgang kaum Pfarrer geworden. Seelsorger müssen einfühlsam mit der Not anderer umgehen. Aber abgesehen von dieser eher abschreckenden Umgangsform, irritiert die Fernheilung. Jesus geht gar nicht zu dem Kranken, wie es in den anderen Evangelien häufig beschrieben wird, berührt kein Auge, keine Zunge, sondern er heilt aus geschätzt 6km Entfernung, so weit ist die geschätzte Entfernung zwischen Kana und Kapernaum. Als aufgeklärter Mensch hat man eine gewisse Skepsis gegenüber Wundergeschichten. Sie gehören für viele in das Reich der Phantasieromane. Können aber in diesem Genre ohne Zauberstab, Zauberkunst und Zaubersprüche kaum beeindrucken.

Diese Fernheilung ist bei Johannes allerdings nur eine Kostprobe von noch viel phantastischeren Geschichten. In der Einleitung unseres Predigttextes wird an das Hochzeitswunder zu Kana erinnert, wo Jesus ca. 600 Liter Wasser in Wein verwandelte (Johannes 2,1-11). Oder denken wir an den verwesenden Leichnam von Lazarus, den er wieder zum Leben erweckte (Johannes 11,1-45). Solche Geschichten kann man doch nicht ernsthaft für wahr halten. Und doch geht es dem vierten Evangelisten genau um eine Wahrheit, die Wahrheit des Menschseins.

 

III. Wundergeschichten und Augenwischereien

 

Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.(4,48) Der Evangelist Johannes hatte eine sehr Wunder gläubige Zeit vor sich. Durch Brot und Spiele in Abhängigkeit gebracht, glaubten die Menschen des Römischen Reiches wohl alles Mögliche. Viele christlichen Wundergeschichten haben daher auch keinen Eingang in die Bibel gefunden, weil sie doch arg phantastisch waren. Ich erinnere mich an ein Wunder, in dem die Jünger Jesu ein Haus von Läusen befreiten. Aber sind wir heutzutage so weit von damals entfernt? Bei seiner Antrittsrede versprach der neue Präsident der USA letzten Freitag, dass die Macht wieder an das Volk zurückgegeben werde. Es ist unglaublich, welche Wundergeschichten und Augenwischereien sich die Amerikaner bieten lassen (müssen). Der Trump-Tower ist als Wahrzeichen für Bereicherung mit seiner Glitzerwelt jedermann vor Augen. Zeit-online hat sich die Wunderwelt und Versprechungen des Präsidenten gestern (21.01.2017) noch einmal genau angesehen: „Reich, weiß, männlich: So lässt sich das Team des US-Präsidenten Donald Trump zusammenfassen. Die Berater und Minister des Milliardärs bilden zusammen das reichste Kabinett der US-Geschichte. Viele von ihnen verdienten ihre Millionen bei der Investmentbank Goldman Sachs.“ Wer hat neben der wirtschaftlichen nun auch noch die politische Macht? Ist es wirklich das Volk? Bei dieser Gelegenheit sei Berthold Brecht zitiert: „Nur die dümmsten Kälber, wählen ihre Metzger selber.

Denn vielleicht ist dem ein oder anderen die genannte Bank noch bekannt, die zum Beispiel 2010 eingestehen musste, dass sie ihren Käufern wichtige Informationen über Finanzprodukte vorenthielt, die in der Finanzkrise 2007 - also vor 10 Jahren - eine unrühmlich Rolle gespielt haben. Es kann hier in der Predigt nicht nachgegangen werden, welche Rolle diese Bank in Europa spielt und wie Menschen gegenwärtig wieder hinters Licht geführt werden sollen.

Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht. Diese Feststellung hört sich fast schon wie ein Seufzer der Aufklärung an. Allerdings geht es Johannes nicht darum, die Vernunft auf den Schild zu heben. Wie leicht ist diese auch heute Spielball im postfaktischen Zeitalter, wo Wahrheit mit Füßen getreten wird.

 

IV. Weggeschichte des Glaubens

 

Johannes bedient sich in seiner leichtgläubigen Zeit zwar auch einer Wunderquelle. Entscheidend aber ist, ob die benutzten Wunder dazu dienen, Wahrheit zu verschleiern, oder ob sie pädagogisch genutzt werden, um für Leichtgläubige auf der Folie von Wundern Zeichen und Spuren der Wahrheit zu legen.

Der Theologe Gerd Theißen geht davon aus, dass der vierte Evangelist maßlose Wunder verwendet, um die Leichtgläubigkeit seiner Zeit zu überwinden und in echten Glauben zu verwandeln, der sich im Alltag bewährt. Besondere Beachtung verdient bei Johannes ganz am Schluss seines Evangeliums der Jünger Thomas, der nur glauben kann, wenn er seine Finger in die Wundmale des Auferstandenen legen kann. Als dieser das tun durfte, sagte Jesus zu ihm: „Weil du (…) gesehen hast, Thomas, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Johannes 20,29).

Es geht also um den echten Glauben. Doch was soll bei der Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten geglaubt werden?

Entscheidend ist die Beobachtung, dass am Anfang von einem Mann mit Bezug zu einem Herrscherhaus dargestellt wird. Wenn man so will, auch ein Mann aus dem Haus der Trumpe[iii]. Der muss Jesus schon mehrfach bitten, bis er sich ihm zuwendet. Später heißt es, dass er Jesus glaubte. Und da ist auf einmal nicht mehr von königlichem Geblüt die Rede. Der Glaube an das Wort Jesu macht diese hochgestellte Person zum Menschen. Da beginnt sich das eigentliche Wunder Bahn zu brechen. Es geht um die Menschlichkeit des Menschen. Der Königliche bittet Jesus von dem gebirgigen Kana in das 200 m unter dem Meeresspiegel liegende Kapernaum zu kommen. Wer aber sinnbildlich vom Thron herabsteigt, ist dann der Mann aus herrschaftlichem Haus. Er wird zum Mensch. - Vielleicht ist Jesus gerade in seiner Unnahbarkeit, wie sie im Johannesevangelium mehrfach spürbar wird, doch kein so schlechter Seelsorger, wie ihm immer wieder nachgesagt wird. - Der Glaube scheint den Menschen bei Johannes auszumachen.

Es sieht ganz so aus, als ob der Evangelist darüber hinaus den Weg Jesu, den Weg der Menschwerdung Gottes,[iv] in diesem adeligen Mann parallel widerholt. Der königliche Beamte steigt im Vertrauen auf Jesu Weisung von seiner Machtposition herab, findet im Glauben zu seinem Menschsein und dann zu seinem Vatersein. Denn nach der Begegnung mit seinen Knechten benennt ihn der Evangelist als Vater, weil er für sein ganzes Haus eine besondere Rolle spielt.

Es geht Johannes wohl weniger um die biologische Vaterschaft zu seinem todkranken Sohn, sondern vielmehr um eine geistliche Elternrolle. Sein ganzes Haus samt Knechten und Mägden fing an zu glauben. Menschen unterschiedlicher Stände und sozialer Ränge fangen an, sich gegenseitig wertzuschätzen und erleben diese neue Begegnung im Geheiß Christi als Bereicherung. Ein Beispiel für die Vaterwerdung aus unserer Zeit sei kurz genannt: Neulich sagte mir ein Ingenieur: „Das Schönste, was mir in meinem Leben passierte, ist, dass ich mich seit 2015 um Flüchtlinge gekümmert habe“. Denn der Unternehmer ist gerade dabei einen aus Afghanistan Geflohenen, dem Schlimmes widerfahren ist, zu adoptieren.

Unser Predigttext ist wohl weniger eine Wunder- als ganz und gar eine Weggeschichte, eine Weg-Ge-schichte, die viele von uns durchleben. Oder – um es anders zu sagen: Die Weggeschichte des königlichen Beamten, eine Weggeschichte des Glaubens, ist das eigentliche Wunder, das Johannes erzählt.

 

V. Zeichen

 

„Sprich, Freund, und tritt ein!“ So lautete das Rätsel auf dem Tor, vor dem die neun Gefährten in Tolkiens Buch Der Herr der Ringe standen. Tolkien-Fans werden es längst wissen. Des Rätsels Lösung war nicht irgendein Zauberspruch. Sondern man sollte nur das Wort „Freund“ tatsächlich sagen, damit sich die Tür öffnet. Das kann wohl nur jemand, der wirklich ein echter Freund ist. Nur ein echter Vertrauter bekommt Zugang. Die anderen versuchen mit Magie, Manipulationen, Augenwischerei, Lug und Trug Zugang zu dem wunderbaren Reich hinter dieser Tür zu bekommen.

Freilich muss gesagt sein, dass die einst so sagenhafte Welt Morias, die - wie wir anfangs hörten - ja durch die Symbole der Religionen gekennzeichnet war, sich nach der Lösung des Rätsels als Grab mit vielen teuflischen und entstellten Wesen entpuppte. Hässliche Orks und ein in sich flammender Balrog trieben dort ihr Unwesen. Man kann in Tolkiens Moria eine versteckte Kritik an den drei Buchreligionen sehen, die sich auf die Gold- und Geldminen eingelassen haben und dabei völlig entstellt wurden.

Das war nun das zweite Zeichen, das Jesus tat.“ Heißt es bei Johannes allen Entstellungen der Glaubenden und der Menschen gegenüber. Es geht bei dieser Geschichte um die richtige Spur, das verborgene Zeichen zu entdecken, das auf eine hinter der Fernheilung verborgene tiefgründige Verwandlung und Schönheit verweist. Semeion ist das griechische Wort für Zeichen. Gezielt verwendet Johannes nicht Teraton/Wunder. Denn es geht ihm bei der Geschichte von der sehr vordergründigen Heilung irgendeines Sohnes vielmehr um ein Wahrzeichen einer anderen Welt. Es geht um ein Kennzeichen des Reiches Gottes und seines Herrschers Jesus Christus. Der Glaube des königlichen Beamten ist ihm ein Wahrzeichen für Gottes Reich. Die Glitzer- und Wunderwelt von Herrschern, ihr Geld und ihre Wertpapiererfindungen sowie unser Umgang mit ihnen verdienen hingegen unsere ständige kritische Prüfung.

Unseren Glauben und unser ganzes Leben erhält allein der, der uns zu vertrauensstiftenden, geistlichen Vätern und Müttern macht, Christus Jesus. In ihm kann sich Moria, die Welt des Glaubens, auch wieder zu einer wunderschönen Schöpfung Gottes verwandeln, in der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Friede wohnen. Amen.

 

Gebet

 

Die Welt wird unsicher, Herr unser Gott. Herrschaftsformen, die uns vertraut waren, geraten ins Wanken. Unsicherheit und Angst wollen sich bei uns einnisten. Lass uns ruhig werden in Dir, dreieiniger Gott, und lass uns die Wahrzeichen deines Reiches erkennen durch unseren Herren Jesus Christus, der mit dir und dem Heiligen Geist regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

 


[i] Tolkien, J.R.R., Der Herr der Ringe, I. Teil: Die Gefährten, Stuttgart 71997,369 und zum Folgenden Tolkien, a.a.O., 369-373.

[ii] Eine wichtige Handschrift (in der Forschung ist diese Majuskelschrift als D bezeichnet) bietet die Übersetzung: Basiliskos = Mann von königlichem Geblüt oder Kleinkönig. D signalisiert noch deutlicher als die anderen Handschriften die mit und zum Gottessohn sich parallel vollziehende Veränderung.

[iii] Vgl. die Trumpe als eine Gruppe der Erdmännchen der Augsburger Puppenkiste, Kalle Wirsch.

[iv] Jesus als Wort vor allem Anfang bis hin zur seiner Fleischwerdung – vgl. präexistenter Logos bis zur Inkarnation im Johannesprolog Kapitel 1.



Autor: Pfarrer Martin Kleineidam