Verabschiedungs- und Einführungsgottesdienst

2. Timotheus 1,7


Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Liebe Gemeinde,

am 19.09.1999, heute genau vor 17 einhalb Jahren hat mich Regionalbischof Wilfried Beyhl hier in der Stadtkirche in mein Amt eingeführt. Ich habe mir für den heutigen Anlass meine Predigt noch einmal hergeholt. Sie ist wie alle wörtlich ausformuliert und im Computer gespeichert. Ich hoffe, nicht in den Verdacht der Faulheit zu geraten oder einer Selbstverliebtheit, die sich am liebsten selbst zitiert, wenn ich auf diese Predigt zurückgreife und manches daraus heute aufnehme. Der Predigttext für den 16. Sonntag nach Trinitatis enthielt den wunderbaren Satz:

Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Eine der eindrücklichsten Szenen im Leben Jesu ist für mich die im Garten Gethsemane, oder wie man in Franken sagt: der Ölberg. Sie begleitet mich seit meiner Kindheit. Jesus betet, alleingelassen von seinen Freunden, er ringt mit seinem Auftrag, den Tod am Kreuz auf sich zu nehmen - und die Jünger schlafen. Als Gemälde in alten Schlafzimmern spricht die Szene in den intimen, persönlichen Raum hinein. An der Außenwand der Wehrkirche in Katzwang, wo ich 1980 bis 1982 mein Vikariat verbrachte, mahnt sie als gotische Figurengruppe seit Jahrhunderten alle, die in die Kirche hineingehen, aus ihr heraus- oder nur vorbeikommen. Und hier in der Stadtkirche finde ich sie wieder als Mittelpunkt unseres Hochaltars. Gemalt von einem mehr oder weniger berühmten Sohn der Stadt, dem Künstler August Riedel, dessen skizzierte Außenansicht unser sonntägliches Gottesdienstblatt schmückt.

Aber ist der Ölberg, Jesus im Garten Gethsemane nicht ein Gegenbild zu der selbstbewussten Zusage aus dem Timotheusbrief: Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht? Ich verzichte heute auf die haarspalterische Unterscheidung von Furcht und Angst, im griechischen Text ist von Feigheit und Mutlosigkeit die Rede, aber die Angst hat viele Namen und Gesichter. Jesus hat Angst. Auch der Gottessohn hat Angst vor dem Tod, darin ist er ganz und gar Mensch. Angstschweiß tropft ihm wie Blut auf den Boden. Angst ist ein Lebensthema vieler Menschen. Im Predigerseminar haben wir die Persönlichkeitstypen von Riemann gelernt, vier Grundtypen wie die vier Himmelsrichtungen. Der Tiefenpsychologe nennt sein Werk, das vielen zur Selbsteinschätzung geholfen hat: Grundformen der Angst. Was bedeutet es angesichts der vielen Ängste, die uns quälen, den einen mehr, den anderen weniger – Ängste, von denen ich wenn schon nicht ein Lied singen, so doch von Träumen und Bauchschmerzen berichten könnte – was bedeutet es angesichts dieses Lebensthemas, wenn uns gesagt wird: Gott hat uns nicht einen ängstlichen, furchtsamen, feigen und mutlosen Geist gegeben? Jedenfalls nicht: ein Christ hat keine Angst.

Jesus kämpft mit seiner Angst, er stellt sich ihr und schaut ihr ins Gesicht. Altmodisch ausgedrückt: Er tut seine Pflicht. Immerhin ist da noch ein Engel, der es ihm leichter macht. Jesus ringt sich durch, den Auftrag seines Vaters im Himmel anzunehmen. Mutig und ruhig stellt er sich seiner Gefangennahme. Die Jünger aber, vorher großmaulig: “Wir lassen dich nie im dich Stich“ - schlafen, schlafen vor Traurigkeit heißt es. „Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?“ tadelt Jesus. Die Furcht lässt sie in den Schlaf fliehen. Später reißen sie vor den Häschern aus. Petrus, der am lautesten getönt hatte: „Wenn alle anderen dich im Stich lassen, ich niemals“, Petrus fürchtet und schämt sich so sehr, dass er seinen Herrn und Freund dreimal verrät, bevor der Hahn kräht. Der Ölberg im Schlafzimmer, an der Außenwand der Kirche oder am Altar ist in Franken häufig anzutreffen. Er fordert uns Christen auf: Schlaft nicht, fürchtet euch nicht, schämt euch nicht.

Erste Aufforderung: Schlaft nicht. Ich spiele jetzt gar nicht auf den Kirchenschlaf an, der manchen Gottesdienstbesucher in der Wärme und Ruhe des Kirchenraums übermannt und manchen Pfarrer schon zu Zornesausbrüchen gereizt hat. „Ich erinnere dich daran, dass du erweckst die Gabe Gottes, die in dir ist“, heißt es im Vers vor unserem Predigttext. Wecke auf, was in dir ist. Wache Christen sollen wir sein, nicht verschlafen, sondern wach und aufgeweckt. „Erwecke die Gabe Gottes, die in dir ist“ schreibt uns der Mitchrist aus der Vergangenheit. Lass deine Begabung nicht einschlafen oder verkommen. Wecke auf, was in dir ist. Du bist begabt, von Gott mit Talenten begabt. Salz der Erde sollen wir sein. Das Gegenteil, sagt der Volksmund, schmeckt wie eingeschlafene Füße. Wenn euer Glaube eingeschlafen ist, weckt ihn wieder auf.

Timotheus war ein kirchlicher Mitarbeiter. Und so gilt die Aufforderung besonders denen, die in der Kirche mitarbeiten, hauptamtlich oder ehrenamtlich, vollberuflich, im Teildienst oder stundenweise, bezahlt oder unbezahlt. Gerade sie stehen in der Gefahr, dass die Gaben in ihnen, die Freude und Begeisterung der ersten Monate und Jahre im Laufe der Zeit einschlafen, begraben und verschüttet werden. Enttäuschungen, kleine Reibereien, fehlende Anerkennung, das tägliche Einerlei legen sich wie Staub und Schutt auf die Seele. Die wertvollen Gaben, die Freude an der Arbeit, die Motivation wieder aufzuwecken, dazu reicht oft nicht ein gutgemeinter Aufruf. Dazu braucht es Hilfe von außen, Unterstützung von Gemeindegliedern oder Kolleginnen und Kollegen. Das ist auch eine Aufgabe eines Dekans.

Aber nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind gemeint. Alle Christen sind angesprochen. Weckt auf, was in euch ist! Ihr seid getauft und habt als Gottes Kinder das Vorrecht, mit allem zu ihm zu kommen. In euch ist der Same des Glaubens eingepflanzt. Und wenn er nur so groß wie ein Senfkorn ist; er kann Berge versetzen. Ihr seid getauft worden an einem Taufstein wie dem da drüben, an dem ich vor über 62 Jahren getauft worden bin. Segen haben wir empfangen, Liebesworte Gottes. Aufwachen heißt, sich daran erinnern, wer wir sind: Gottes einmalige Geschöpfe, ausgezeichnet mit seiner Liebe. In vielen unserer Kirchen wird die Taufschale von einem Taufengel gehalten. Wieder der Engel – gut, wenn man diese Engel zur Seite hat, die einen aufwecken und ermutigen, ein Wort von Gott sagen oder auch nur eine praktische Hilfestellung. Gottes Engel brauchen keine Flügel.

Übrigens sollen wir vor lauter Wachsamkeit nicht gleich ins Gegenteil verfallen und uns in hektischer Aufgeregtheit gar keine Ruhe mehr gönnen. Das Bild von den schlafenden Jüngern und dem wachenden Jesus ist nicht nur ein Vorwurf, sondern auch eine Beruhigung. Immerhin ist er wach geblieben. Das wesentliche, sein Entschluß, sein Leben für uns alle zu geben, geschah, während die Jünger schliefen. Den Seinen gibt´s der Herr tatsächlich immer wieder im Schlaf. Martin Luther sagt: Während ich mein gut Einbek´sches Bier trinke, baut Gott sein Reich.

Zweite Aufforderung: Fürchtet euch nicht. Ich will jetzt nicht wieder und nicht mehr von den Ängsten reden. Oft gelingt es uns Predigern und Predigerinnen ja viel leichter, sehr konkret und sehr einfühlsam, manchmal auch etwas drastisch oder verallgemeinernd über die Probleme zu reden, über all das Negative. Ich habe es mir zur Regel gemacht, eine Predigt möglichst mit einer positiven Aussage zu beginnen. Sonst gerät man leicht in diesen Strudel, der einen nach unten zieht und aus dem man so schwer wieder heraus kommt. Der Geist, der in uns steckt, ist aber kein Geist der Furcht, sondern ein Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. So möchte ich der doch auch negativ formulierten Dreiheit „schlaft nicht, fürchtet euch nicht, schämt euch nicht“, diese positive aus dem Predigtwort entgegen stellen: den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Kraft – dieses Thema ist mir im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden. Vielleicht hängt das mit dem Älterwerden zusammen. Kraft, seine Arbeit zu tun, jeden Tag von Neuem. Auch geistige Arbeit erfordert Kraft. Die Seele braucht Kraft. Kraft, eine Aufgabe anzupacken und zu Ende zu bringen, also Durchhaltevermögen, sportlich gesprochen: Kondition; Kraft, sich etwas Schwerem zu stellen, dem, was einem Angst macht, vielleicht einem Konflikt – diesem nicht auszuweichen und den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen; Kraft, die in der Pflege oder auch Begleitung einer pflegebedürftigen alten Frau oder am Sterbebett nötig ist. Kraft, früh aufzustehen und sich nicht unter der Zudecke zu verkriechen, weil schon wieder so ein Berg vor einem liegt. Wenn der Spruch nicht durch die Nazis obsolet geworden wäre, würde ich sagen: Kraft durch Freude. Wenn ich mich freuen kann auf den Tag, auf die Menschen, den ich begegnen werde. Das gibt Kraft. Und eine andere Jahreslosung ist mir wichtig geworden: Gott sagt: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Deshalb heißt die Devise eben nicht: Nur keine Schwächen zeigen. Sondern erstaunlich, wie Gott durch Schwachheit wirkt, vielleicht sogar durch das, was wir verharmlosend „Schwächen“ nennen.

Ich ziehe den Geist der Besonnenheit an die zweite Stelle. Besonnenheit kommt von „sich besinnen“. Vielleicht ist es auch eine Charaktereigenschaft, wenn jemand ruhig und besonnen bleiben kann, zumindest nach außen hin, auch wenn es innen drin brodelt. Diese Gelassenheit kann aus dem Glauben kommen, aus dem Vertrauen, dass Gott schon Wege findet, da dein Fuß gehen kann. Manchmal kommt sie auch aus der Erfahrung, dass es meistens doch eine Lösung gibt. Zuletzt haben wir im Büro diesen Zeitdruck, dieses Arbeiten „immer auf den letzten Drücker“ etwas euphemistisch „just in time“-Produktion genannt. Aber Besonnenheit ist mehr als nur die Ruhe bewahren. Sie kommt von „sich besinnen“. Jesus besinnt sich im Garten Gethsemane auf seinen Auftrag; auf das, was er ist – Gottes Sohn – und auf das, was sein Vater will. Dazu braucht er dieses Alleinsein, diese Ruhe nach der Feier, vielleicht auch diese Krise. Er kommt zur Besinnung. Besinnungslos sind wir manchmal, nicht nur, wenn gerade jemand in Ohnmacht fällt.

Und dann natürlich und zuletzt und vor allem: den Geist der Liebe. Unser Landesbischof hat einmal den homiletischen Rat weiter gegeben, man solle das Wort Liebe nur dann verwenden, wenn es unbedingt nötig ist. Gerade dieses Wort verliert durch inflationären Gebrauch seine Bedeutung, es sagt alles oder nichts. Aber heute ist es unbedingt nötig: Gott hat uns den Geist der Liebe gegeben. Mehr muss ich nicht sagen. Amen

 

 



Autor: Dekan Hans Peetz