Volkstrauertag

2. Korinther 5,1-10


Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt.

 

I. Liebe Gemeinde,

mein Sohn hat Angst vor dem Krieg. Soll ich sie ihm ausreden – oder gehört sie zum Leben dazu? Vor kurzem stand es so in der Rubrik „Elternfrage“ in der Süddeutschen Zeitung. Mein Sohn hat Angst vor dem Krieg. Was tun?

Angst vor dem Krieg. In Deutschland, im Jahr 2014. Es ist ein besonderes Jahr, was die Angst und was den Krieg betrifft. Der Beginn des Ersten Weltkrieges jährt sich zum 100. Mal. Die Jahre 1914 bis 1918, die lange im Schatten des 2. Weltkrieges standen, werden neu ins Licht gerückt und mit ihnen die Angst der Menschen damals. Eine Angst, die eher schleichend kam angesichts der anfänglichen Kriegsbegeisterung der Vorerfahrung des schnellen Sieges 1870/71. Da gab es viele, die jubelnd zu den Fahnen liefen, da standen in den ersten Kriegswochen fast täglich vaterländische Gedichte im Bayreuther Tagblatt, da schrieb ein junger Mann in sein Tagebuch: „Jede Nacht gebetet: wenn bloß der Krieg nicht aufhört, bis wir drankommen“. Der Krieg hörte nicht auf, auch, wenn sich das bald viele andere gewünscht hätten. Denn mit dem Krieg kamen Ernüchterung, Angst und Trauer. Die erste Gefallenen-Anzeige in Bayreuth knapp vier Wochen nach Kriegsbeginn, die vielen Toten, die folgten, die Nachrichten vom großen Sterben: Die verhängnisvolle Schlacht an der Marne, das Blutbad bei Langemarck, der unbarmherzige Stellungskrieg in Verdun. „Liebe Eltern, ich glaube, ich muss sterben“, so der letzte Gruß eines Theologiestudenten aus dem Feld. Und die, die nicht im Feld starben, sondern traumatisiert zurückkehrten, die zeigten mit ihrem Kriegszittern denen in der Heimat, wie ein Mensch zu einem Bündel aus Angst werden kann.

Ob er davon auch gehört hat, der Sohn, vierzehn Jahre alt, um dessen Angst sich die Eltern in ihrem Leserbrief sorgen? Vor allem, lese ich, bezieht sich seine Angst auf die Gegenwart. Eine Gegenwart, in der Gewalt und Krieg erneut in einer ungeahnten Dimension eine verzerrte Fratze des Menschseins zeigen. Die Krise in der Ukraine, der Bürgerkrieg im Sudan, die Auseinandersetzungen in Israel – und schrecklich präsent vor allem: Das Blutbad, das der IS im Irak und in Syrien anrichtet, die Schreckensherrschaft, die diese Fanatiker errichten, perfekt organisiert, wie wir seit kurzem wissen, ihre Bildertaktik, der wir fassungslos ausgeliefert sind, fassungslos darüber, wozu Menschen fähig sind, für die es keine Grenze, kein Tabu, kein Mitleid gibt. Angst und Krieg 2014: Dieses Jahr macht uns neu bewusst, wie brüchig das Eis des Friedens und der menschlichen Konventionen ist, auf dem wir uns bewegen.

 

II. Das Leben ist brüchig, auch erschreckend.

Der Abschnitt aus dem 2. Korintherbrief, den wir vorhin gehört haben, kleidet diese Erkenntnis in ein Bild: Paulus schreibt von unserer irdischen Hütte, dem Verfall anheimgegeben. Und diese Hütte, diese Welt, ist für viele alles andere als heimelig – in ihr seufzen Menschen und leiden. Paulus war keiner, der das Leben schöngeredet hat. Er wusste um Hass, um Dummheit, um Qual und Tod. Er wusste um den Menschen „böse von Jugend an“, wie das Alte Testament nüchtern feststellt. Paulus wusste um die Realität. Und er wusste auch um das Kreuz.

Mein Sohn hat Angst vor dem Krieg. Was tun?
Ich denke an Paulus und möchte zunächst sagen: Diese Angst darf er haben, der Junge, und wir alle sollten sie teilen. Gerade jetzt, in unserer gepflegten Friedlebigkeit, gerade hier, wo der Krieg uns nicht mehr, noch nicht direkt betrifft, wo die Versuchung groß ist, es sich gemütlich einzurichten in der irdischen Hütte. Wacht auf, seid empfindsam für diese Welt, fordert Jesus. Leben in seinem Sinn ist Leben in Gemeinschaft, und das heißt auch: Sich verstören zu lassen von dem Elend des anderen, sich den Bildern und den Geschichten des Krieges auszusetzen: Die Leidenden haben ein Recht darauf, dass ihre Wunden gezeigt, ihre Geschichten erzählt, ihre Klagen gehört werden: Diese Welt, so, wie sie ist, ist nicht gut. Und Krieg und der Wille Gottes gehören nicht zusammen. Diese Erkenntnis hat es auch in unserer Religion nicht immer auf die Kanzeln geschafft: Im Oktober 1914 etwa, da stützten ranghohe liberale Theologen, unter ihnen Adolf von Harnack, im „Aufruf an die Kulturwelt“ gemeinsam mit anderen Gelehrten die Politik Wilhelms des II. – ein Sinnbild für den Schulterschluß von Thron und Altar. In ganz Europa erklärten Geistliche den Krieg als gottgewollt, segneten die Soldaten, stärkten den Kampfeswillen und hielten teils hasserfüllte Reden. Der Krieg brachte den Kirchen etwas von der verloren geglaubten Bedeutung zurück; er trieb die Menschen zurück in die Gotteshäuser – und dort war nur selten von Frieden und Versöhnung zu hören. Der Historiker Norbert Aas hat Predigten Bayreuther Pfarrer untersucht: Da wird der Krieg als „Bußpredigt Gottes“ gedeutet, da veranlassen Siegesnachrichten einen Geistlichen zu „demütigem Dank gegen den Lenker der Schlachten“, da werden in Gottes Namen Stärke und Heldentum gefordert. Solche Töne sind uns heute in unseren Kirchen fremd, wir haben wohl auch aus unserer Schuld in den beiden Weltkriegen gelernt. Gottes Wille, wie er sich im Leben und Sterben Jesu Christi offenbart, ist Friede. Und es muss uns immer wieder Angst machen, dass diese Welt alles andere als ein Ort des Friedens ist.

 

III. Mein Sohn hat Angst vor dem Krieg.

Was aber dann tun mit der Angst, dem Erschrecken, mit dem Krieg? Paulus lenkt zunächst unseren Blick weg von den Bildern des Leids, er lenkt ihn himmelwärts, hin zu einem Bild der Sehnsucht: dem Bild vom ewigen Haus Gottes. Einmal wird  vollendet, was in Jesus angebrochen ist – dann sind wir da an diesem Ort, den die Bibel voll Zärtlichkeit und Poesie beschreibt: der Ort, an dem nicht Leid ist noch Geschrei, an dem der Wolf neben dem Lamm liegt, und einer trocknet unsere Tränen. Einmal wird es sein. Hass und Dummheit und Krieg sind vorläufig. Das Leben wird siegen – allem Tod zum Trotz. Und Gerechtigkeit wird das letzte Wort haben: Wir alle müssen offenbar werden vor dem Richterstuhl Gottes, so der Spruch für die vor uns liegende Woche. Gottes ewiges Haus, in dem Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Was für ein Bild. Es braucht dieses Bild angesichts der verstörenden Bilder dieser Welt, es braucht den Blick himmelwärts, immer wieder, um als Christ in dieser Welt zu leben. Der Blick himmelwärts – er hilft, dass uns Angst und Erschrecken nicht lähmen, sondern mit trotzigem Mut einhergehen. Der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker hat gesagt:  „Man kann in dieser Welt, wie sie ist, nur dann weiterleben, wenn man zutiefst glaubt, dass sie nicht so bleibt, sondern werden kann, wie sie sein soll.“ Oder um mit Paulus zu sprechen: Wir schauen hier auf Erden noch nicht das Paradies, aber wir wandeln im Glauben: einmal wird es sein. Und dabei sind wir nicht allein: Gottes Geist ist in uns, er gibt die Kraft, auf seine Zukunft hin zu handeln. Und kein Schritt hin zum Frieden, und sei er noch so klein, ist vergebens.

 

IV. Wandeln im Glauben, das bedeutet für mich: Angst und Verstörung gepaart mit Mut und Sehnsucht – und das kann nicht ohne Folgen bleiben. Auch, wenn diese Folgen unterschiedlich aussehen. Ich denke daran, was führende Kirchenvertreter angesichts der Krise im Irak anmahnen: Margot Käßmann etwa, als überzeugte Pazifistin, kritisiert Auslandseinsätze der Bundeswehr und Waffenlieferungen in Krisengebiete; sie fände es gut, wenn Deutschland auf eine Armee verzichten könnte.  „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem”, zitiert Käßmann, und führt Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela als Vorbilder gewaltlosen Widerstands an.

Einen anderen Weg geht unser Landesbischof und neuer ekd-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm: Er befürwortet einen internationalen Militäreinsatz im Irak, weil „die schwächsten Glieder –  in diesem Fall diese Flüchtlinge, die Fürchterliches erlebt haben und panische Angst haben – geschützt werden müssen." Und sein akademischer Lehrer Wolfgang Huber sagt: „Für mich schließt das Gebot ,Du sollst nicht töten‘ auch das Gebot ein: ,Du sollst nicht töten lassen‘. Und: "Unsere Verantwortung für den Frieden kann im äußersten Notfall den Einsatz von Waffengewalt einschließen. […] Wir werden auch dann schuldig, wenn wir die Opfer des IS allein lassen."

Konsequenzen des Glaubens mit unterschiedlichen Akzenten sind in der Kirchengeschichte in zahlreichen Varianten durchgespielt: Auf der einen Seite steht der Versuch, bereits hier so zu leben, wie es der Blick himmelwärts für die Zukunft verheißt. Auf der anderen Seite drängt es Christen, hier und jetzt in Jesu Namen Verantwortung zu übernehmen für die Welt, für die Schwachen, die Leidenden - auch in dem Bewusstsein, dass es Situationen gibt, in denen jedes Handeln uns schuldig werden lässt.

Wie auch immer man die Positionen im Detail bewerten mag: Die, die sie vertreten, zeigen: Wandeln im Glauben treibt an, sich zu der Welt zu verhalten – in aller Fehlbarkeit, in aller Vorläufigkeit. Scheitern ist inbegriffen. Wir können diese Welt nicht retten. Das kann und wird nur einer. Aber wir können sie in Gottes Namen ein Stück weit gestalten. Und wir können und müssen den Bildern des Schreckens Bilder unserer Hoffnung von einer anderen Welt entgegenhalten. Mischt euch ein, macht mit! Das hat Bundesinnenminister de Maiziere auf der ekd-Synode Anfang dieser Woche eindrücklich gebeten; die Kirche habe eine enorme Diskurskraft, sie solle die Politik nicht alleine lassen. Paulus sehnt sich danach, mit der himmlischen Behausung überkleidet zu werden, er sehnt sich danach, dass das Sterbliche verschlungen werde vom Leben. Es gibt Momente, in denen ich schon jetzt etwas von dem empfinde, was Paulus hofft: Etwa, wenn ich von der halben Million Euro höre, die unsere Landeskirche verfolgten Christen im Irak zur Verfügung stellt. Wenn ich erlebe, wie beispielsweise Bayreuther Gemeinden und Schulen für die Flüchtlinge sammeln. Wenn ich sehe, wie viele Veranstaltungen auch hier in Bayreuth uns die Schrecken des Ersten Weltkrieges vor Augen halten. Oder wenn ich an die Wunsiedler Bürger denke, die sich gestern einmal mehr mit einer phantasievollen Aktion den Rechtsextremen und ihren Parolen in den Weg gestellt haben.

 

V. Mein Sohn hat Angst vor dem Krieg – was tun?

Ich würde ihm solche Hoffnungsgeschichten erzählen, Geschichten aus der Gegenwart, aber auch Geschichten der Vergangenheit. Etwa die vom 24. Dezember 1914: Millionen Soldaten harren in den Schützengräben an der Westfront aus, im Schlamm, in der Angst, zwischen den feindlichen Linien die Gefallenen der vergangenen Tage. Und dann, an einigen Stellungen, auf einmal: Friede. Weihnachtsfriede. Kerzen werden angezündet, Waffen schweigen, Tote werden geborgen. Die, die sich noch am Tag zuvor bekämpft hatten, tauschen Weihnachtsgaben aus. Stille Nacht, Holy Night, klingt es über den Schützengräben. Nach den Weihnachtstagen wurde dann wieder geschossen. Aber kurz ist es geschehen: Das Irdische wurde vom Himmlischen überkleidet. Und mitten im Morden wurde die Welt um eine Hoffnungsgeschichte reicher gemacht.

Du hast Angst vor dem Krieg, mein Sohn? Lass sie zu, die Angst, aber schau auch immer wieder zum Himmel. Denk an die kleinen Geschichten von der großen Hoffnung, erzähle sie weiter, und – wer weiß: Vielleicht fügst du diesen Geschichten selbst eine neue hinzu. Nicht wenige Hoffnungsgeschichten beginnen ja genau so: Dass da jemand ist, der sich anrühren lässt von dieser Welt und ihrem Leid.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne. Amen.



Autor: Dr. Angela Hager