Jahreslosung 2015

Römer 15, 7


Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.

 

 

Liebe Gemeinde,

wer ist es heute und wer wird es in diesem neuen Jahr sein, den wir annehmen sollen, so wie Christus uns angenommen hat? Zunächst sind die Christen in der Gemeinde angesprochen. Schauen wir uns um in der Kirche. Denken wir an Gemeindeglieder, die jetzt nicht da sind. Gibt es da welche, bei denen es schwer fällt, sie anzunehmen, sie zu akzeptieren. Wir reden dann schnell von Marotten, die jemand hat, oder von den Ecken und Kanten. Es gibt so unangenehme Eigenschaften, derentwegen wir manchen Leuten lieber aus dem Weg gehen oder uns auf ein kurzes „Grüß Gott“ beschränken, ein längeres Gespräch aber besser vermeiden. Zum Beispiel Leute, die immer noch ein Haar in der Suppe finden oder einem immer etwas unter die Nase reiben wollen, also die etwas, was schlecht riecht oder stinkt einem unter die Nase halten und dann noch zerreiben, dass es noch mehr duftet.

In der Gemeinde in Rom, an die Paulus einen langen Brief schriebt und an dessen Ende er die schöne, einprägsam Aufforderung unserer Jahreslosung platziert – in der Gemeinde in Rom gab es sicherlich auch all die mehr oder weniger abstoßenden Charaktereigenschaften, die leider auch unter Christen nicht auszurotten sind. Doch hier geht es um Frömmigkeit. Auch die Frömmigkeit des anderen kann einen aufregen oder abstoßen, seine Art zu beten oder nicht zu beten, seine Gewissenhaftigkeit, ja nur nichts falsch zu machen, oder seine Wurstigkeit, als wäre alles egal. In Rom drehte sich der Streit ums Essen. Die einen hatten Skrupel, Fleisch auf dem Markt zu kaufen. Man wusste ja nicht, wo es herkam. Dabei ging es aber nicht um die Frage, ob das Fleisch von einem Rind kommt, das der Verbraucher noch selbst gekannt hat, ob also alles „bio“ ist. Das Tier könnte ja in einem heidnischen Tempel geschlachtet worden sein, also auf einem heidnischen Opferaltar gelegen haben, bevor es dann auf die Fleischertheke kam. Die einen, sozusagen die Übervorsichtigen, machten sich Sorgen, dass ihr Sonntagsbraten sozusagen religiös vergiftet sein könnte. Und die anderen lachten sie aus, fühlten sich überlegen, als die Starken im Glauben. Anders herum ärgerten sich die Vorsichtigen nicht nur über diesen Spott, sondern dass sie ihr Problem nicht ernst nahmen und sich über alles hinweg setzten.

Nehmt einander an, heißt dann wohl zuerst einmal: versucht die anderen zu verstehen. Auch wenn ihr anderer Überzeugung seid und euch hundert Prozentig im Recht wisst, tut die andere Meinung nicht einfach ab, zum Beispiel indem man sie lächerlich macht. Setzt euch damit auseinander, damit ihr wieder zusammen kommt. Nur ganz im Extrem kann es einmal notwendig sein, nach dem Motto zu reagieren: „gar nicht erst ignorieren“. Doch Paulus geht noch weiter: er fordert von den angeblich Starken sogar, auf ihre Stärke und Freiheit zu verzichten, also auch selbst nicht solchem Fleisch zu essen, dessen Herkunft unsicher ist. So wie manche Väter während der Schwangerschaft ihrer Frau auch keinen Alkohol trinken, um ihr den Verzicht zu erleichtern. Das wäre dann wahre Stärke.

Wir sollen aber bei unserer Jahreslosung über den Kreis unserer Gemeinde, über die Konflikte und Spannungen unter uns Christen hinaus schauen. In Rom prallen die Kulturen aufeinander. In diesem multinationalen Schmelztiegel, in dem schwarze Afrikaner anlanden genauso wie schwarzhaarige Kurden, rotbärtige Gallier und gelockte Griechen. Auch unter den Christen. Vielleicht sind es die Einheimischen, die ehemaligen Heiden, die die jüdischen Einwanderer ablehnen; Christen, die Juden sind und es auch bleiben. Da stoßen Welten aufeinander: die einen, die durch die Predigt des Paulus erlöst und befreit glauben, die nie etwas von reinen und unreinen Tieren gehört haben, dass man kein Schweinfleisch essen darf, wie es den Juden verboten ist. Gegensätze so krass, wie im Streit, ob ein muslimischer Junge gezwungen werden kann, am gemeinsamen Schwimmunterricht von Jungen und Mädchen teilzunehmen, in dem eben Mädchen auch Bikinis tragen. Auch für die Christen in Rom war es eine Herausforderung, andere Christen mit so ganz anderem kulturellen Hintergrund anzunehmen. Bei uns sind viele der Flüchtlinge Muslime. Auch sie gilt es anzunehmen.

Und da ist es gar kein Widerspruch, wenn es in der Jahreslosung heißt: Nehmt einander an, gleichwie Christus uns angenommen hat. Wie hat uns denn Christus angenommen. Mit dem Blick auf das Kind in der Krippe können wir an den alten Ausdruck denken: er hat die menschliche Natur angenommen. Oder wie es im Weihnachtslied heißt: Fleisch und Blut nimmt er an. Wenn die griechischen Götter die Gestalt eines Menschen angenommen haben, oder Zeus, der immer hinter den Menschenfrauen her war, die Gestalt eines Stieres, dann war das eine Art Verkleidung. Schnell konnten sie die wieder ablegen. Wenn Gott Fleisch und Blut annimmt, dann echt, nicht nur als Maskerade, sondern bis zur letzten Konsequenz, bis hinein in eine Futterkrippe. Die Alten wussten: wenn Gott die menschliche Natur annimmt, dann erlöst er sie damit.

Wenn wir fragen, wie Christus annimmt, dann können wir an das Lied denken: Jesus nimmt die Sünder an, oder an den Vers aus dem Lukasevangelium, der dem zugrunde liegt. Die Pharisäer, also die Gerechten und Frommen beschweren sich: Dieser nimmt die Sünde an und isst mit ihnen. Leute, die jeder Anständige nur ablehnen konnte, weil es heißt: wer sich mit Dreck abgibt, besudelt sich, mit denen setzt sich Jesus an einen Tisch. Die Einladung, sich mit an den Tisch zu setzen, ist mit der schönste Ausdruck für dieses „nehmet einander an“; setzt dich zu mir, setzt euch zu uns, reden wir miteinander, trinken wir einen Schluck und stoßen an, essen wir miteinander.

Wenn wir fragen, wie Gott annimmt, dann können uns müssen wir an die Taufe denken. Wenn man bei uns sagt, das ist ein „angenommenes“ Kind, dann meint man ein Adoptivkind. Es wurde an Kindes statt angenommen. Taufe ist eine Art Adoption. So wie bei der Taufe Jesu die Stimme aus dem Himmel sagt: Das ist mein lieber Sohn, und wie Jesus die Mütter mit ihren Kinder eben nicht wegschickt und ablehnt, wie es die Jünger tun wollen, sondern sagt: Lasst die Kinder zu mir kommen, so nimmt Gott Kinder und Erwachsene bei der Taufe als seine Söhne und Töchter an. Die reden ihn dann ja auch so an: Vater unser im Himmel.

Wenn man das alles zusammen nimmt, könnte man meinen: dieser Halbsatz „so wie Christus uns angenommen hat“ enthält eigentlich das ganze Evangelium: Weihnachten, Taufe, Sündenvergebung und Erlösung. Zum zentralen Ausdruck für das Heil wurde die „Annahme“ in der Seelsorgebewegung der 70er Jahre. Einen Menschen bedingungslos annehmen, so wie er ist, wurde zur Grundvoraussetzung für jede Seelsorge erklärt. Weil jemand sich erst öffnen kann, erst dann Vertrauen fassen kann und seine Schwierigkeiten, seine Nöte, sein Herz erst dann ausschütten kann, wenn er diese Annahme spürt, und eben nicht Ablehnung. Wenn er nicht befürchten muss: ich werde verurteilt oder zumindest schief angeschaut, wenn ich einen großen Fehler gemacht habe, wenn ich mit diesem Menschen einfach nicht zu recht komme, wenn ich einfach nur Angst habe oder mir der Glaube fehlt. Einen Menschen so bedingungslos annehmen, kann man, wenn man glaubt und weiß: Gott selbst nimmt ihn an.

Es gibt aber auch Einwände: wird mit dieser bedingungslosen Annahme nicht alles gut geheißen, was eben nicht gut ist an uns und an unserem Tun. Gehört zu diesem großen Ja nicht auch ein deutliches Nein? Nein zu dem, was Gott eben nicht gutheißen kann und wir auch nicht. Das ist ja die Angst eines jeden, der ehrlich ist mit sich selbst und vor Gott: Wie kann Gott mich annehmen, mich bejahen, wo er doch nicht nur meine Taten kennt, sondern auch meine Gedanken, meine Blicke, auch meine Gefühle. Theologen sagen dann gern: Gott unterscheidet Person und Werk. Zur Person, zu dem Menschen sagt er Ja, zu den Werken, jedenfalls zu einem Großteil muss er Nein sagen, nicht nur zu denen, die unstrittig schlecht sind, sondern auch zu denen, in denen sozusagen der Wurm steckt wie in einem glänzenden Apfel. Aber was bleibe übrig von der Person, von mir als Menschen, wenn man alles wegnehmen und verneinen würde, was nicht hundertprozentig gut ist; wohl nichts. Die Werke, die Taten, Gedanken, Erlebnisse machen meine Person aus.  Die Hoffnung ist, dass Gott uns trotz und mit alledem annimmt. Dafür ist Jesus Christus am Kreuz gestorben.

Nehmt einander an, so wie Christus uns angenommen hat. Wenn man dieses „so wie“ bedenkt, dann dürfte es doch gar nicht schwer fallen, den anderen mit seinen Fehlern, seinen Macken, seiner Andersartigkeit anzunehmen. Manchmal muss man dann richtig ackern an diesen Fehlern, oder andere müssen mit mir ackern an dem, was unannehmbar ist. Voraussetzung dafür, dass man so miteinander ackern kann aber ist dieser Vorschuss an Annahme. Wenn es an der Reinigung keine Annahmestelle gäbe oder die Annahme schmutziger Wäsche verweigert würde, dann würde nie etwas sauber.

Das Ganze aber, liebe Gemeinde, soll zum Lob Gottes geschehen. Aus dem Stimmengewirr und Durcheinander soll ein einmütiges Lob Gottes werden, wie mit einem Munde. Aus der Kakophonie des Streites die Harmonie des Lobgesangs. Auch der Chor hat unterschiedliche Stimmen. Der volle Klang entfaltet sich erst, wenn die Verschiedenen, die tiefen und die hohen Stimmen, die lauten und die Leisen zusammen kommen. Schon im Psalm wird besungen, wie lieblich es ist, wenn Brüder und Schwestern einträchtig beisammen wohnen.

Es ist schon spannend am Beginn eines Jahres mit dieser Losung, wen Gott uns alles schicken wird, dass wir ihn oder sie annehmen, wie Christus uns angenommen hat. Man könnte natürlich auch fragen, was er uns schicken wird? Aber die Jahreslosung zeigt auf die Menschen, denen wir begegnen werden. Amen

 

 

 



Autor: Dekan Hans Peetz