Neugeborenes und neu gebärendes Christentum

Johannes 20,19-29


Liebe Gemeinde,

 

I. Stufen des Glaubens

 

in der Geburtsstunde werden ungeheure Kräfte frei. Viermal hatte ich als Vater die Gelegenheit bei dem kostbaren Ereignis des Lebens dabei zu sein, wenn ein Mensch zum ersten Mal die Augen öffnet und die Welt in sein Inneres fällt.

Wie die gerade neugeborenen Kinder sollen wir nach Ostern sein. Doch was meint das genau? Sollen wir blind glauben? Heißt es jetzt, wieder zurückkehren zu Weihnachtsmann, Osterhasen und dem leibhaftig Auferstandenen?

Ernst Nipkow und James Fowler haben fünf bzw. sechs Stufen des Glaubens in der Entwicklung des Menschen ausgemacht. Eine der ersten Stufen ist der mythische Gottesglaube. Kinder glauben ungebrochen an die Geschichten von Mose, die man ihnen im Kindergottesdienst erzählt, wie er durch das Schilfmeer geht und sich zu beiden Seiten das Meer zu riesigen in sich wallenden Wasserwänden aufbauen und die Israeliten auf der Flucht hindurchgehen. Für sie ist es auch kein Problem zu glauben, dass Jesus, wie beim 4. Evangelisten zu lesen, durch verschlossene Türen oder Wände gehen kann. Kindern freuen sich an diesen Geschichten, spannend erzählt, ohne die Einschränkungen der Vernunft. Man versteckt Osternester im Garten, für die freilich Osterhasen verantwortlich sind; nicht um sie hinter´ s Licht zu führen, sondern um sie mit dem Glauben so vertraut zu machen, dass sie es altersgemäß verstehen.

 

II. Religionsloses Christentum?

 

Irgendwann im späteren Grundschulalter kommt es dann zum Bruch dieses Glaubens. Die Kinder entdecken, dass es den Osterhasen nicht gibt, auch das mit den Wasserwände im Roten Meer wird schon in der 5. Klasse zusammen mit einer Religionslehrkraft "entmythologisiert" und auch die Auferstehungsgeschichte des Johannes mündet in einer Zielaussage, die zwischen dem sehenden Zwilling Thomas und seinem glaubenden Zwillingsbruder unterscheidet. Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!(Johannes 20,29)

Es sieht so aus, als ob Johannes mit dieser Seligsprechung der Glaubenden, die ohne Beweises und Liebeserweise auszukommen scheinen, genau auf die Stufe des Glaubens abhebt, die auch Nipkow und Fowler vor Augen schwebt. Auf dieser letzten Glaubensstufe finden sich Menschen, die wie Gandhi, Mutter Teresa oder Martin Luther King nicht nur vorkritischen Kinderglauben und reifen kritischen Erwachsenenglauben verbinden können, sondern einen universalen Glauben auf den Straßen des Lebens praktizieren. Sei es auf dem Weg mit den Schwarzen in Südafrika wie Gandhi, sei es in den Gossen Kalkuttas zu den Leprakranken wie Mutter Teresa oder sei es im Marsch nach Washington D. C. im Namen der Gleichheit aller Menschen wie King. Am Ende des Lebens steht die Vision eines religionslosen aber sehr ethischen Christentums (Bonhoeffer) , das auf Gregorianik, Sakramente oder jede Form von Mythos (Bultmann & Schüler) verzichtet, um sich ganz in Dienst der Menschheit zu stellen. „Alle Menschen sind Brüder“ formulierte schon Beethoven am Ende seines Lebens in der 9. Sinfonie.

 

III. Der Zwillingsbruder vom Glaubenden

 

Doch widmen wir uns zunächst dem Zwillingsbruder des Glaubens. Betrachten wir Thomas, genannt der Zwilling. Er ist als der Zweifler bekannt. Für Menschen wie ihn hat ein Theologe in Helsinki (Pfarrer Olli Valtonen) eine Extra Messe ins Leben gerufen, die fortan seinen Namen trägt: Die Thomasmesse. Sie ist gedacht für Menschen, die Gott suchen oder an ihm zweifeln. Die Messen sind mit besonders sinnlichen Elementen ausgestattet: So kann man eine Segnung empfangen, eine seelsorgeliches Gespräch führen und Taizé-Lieder singen. Gelegentlich kommen neue Elemente hinzu wie Fußwaschung oder gemeinsames Essen im Gottesdienst. Es handelt sich um Gottesdienste, die Menschen unserer Zeit den Glauben nahe bringen wollen. Diese Form spricht seit Mitte der 90er Jahre zahlreiche Menschen nicht nur in Bayreuth sondern in über 50 deutschen Städten an.

Aber bei allem Erfolg ist Thomas wirklich ein Zweifler? Er zweifelt ja gar nicht an der Existenz Jesu oder Gottes. Ohne Weiteres nennt er Jesus „Mein Herr und mein Gott“. Die Theologie ist ihm nicht fremd. Er ist auch kein bigotter Zeitgenosse, der einen besonders starken Glauben aufweisen möchte, aber im Grunde seines Herzens die Neigung hat, Im Schatten gesellschaftlich geachteter Theologen eben auch besondere Beachtung zu finden.

Thomas ist weder ein Zweifler noch ist er der Bigotterie verfallen. Er will den Nachweis eines Lebens nach dem Tod haben. Wenn man so möchte, ist er der Empiriker, der eine Versuchsanordnung aufstellt, um Gesetzmäßigkeiten festzustellen - nur eben nicht im Labor einer Universität, sondern auf dem Feld des Glaubens an die Auferstehung.

 

IV. Johanneische Hyperbel

 

Johannes erzählt diese Versuchsreihe überaus drastisch: Thomas muss seine Finger dem Auferstandenen in die Wunden der Hände und seine Hand in die offene Seite legen, um die Wahrheit der Auferstehung für sich begreifen zu können. Wie an etlichen Stellen im Evangelium übertreibt Johannes auch hier in anschaulicher Weise. Kapitel 2 lässt Jesus bei der Hochzeit in Kana Wasser in Wein verwandeln oder später einen bereits verwesenden Toten – genannt Lazarus – nach mehreren Tagen auferstehen. Am Ende erscheint Jesus selbst, extrem gezeichnet als Auferstandener, obwohl er doch zuvor beim Kreuz zweifellos als tot erklärt wurde (vgl. Johannes 19,30b.34f.). Der Theologe Gerd Theißen fragt, warum Johannes scheinbar widersprüchlich verfährt. Er versteht die Erzählung von dem Auferstandenen als Hyperbel. Johannes übertreibt so stark, dass eigentlich auch dem Letzten klar sein müsste, es geht nicht ums Sehen, eben in Folge auch nicht darum, dass unsere Särge irgendwann nach der Beerdigung tatsächlich leer und unsere Körper vor der Verwesung verschont blieben. - Bitte, liebe Gemeinde, lassen Sie insbesondere auch die christlichen Gräber auf unseren Friedhöfen unversehrt -; denn gegenüber einer unangebrachten Neugier, ob auch christliche Leiber den Gang alles Weltlichen gehen, lohnt ein Blick an den Anfang des Evangeliums: „Alle Dinge sind durch“ Christus (=dasselbe, das Wort wurde in Jesus Fleisch vgl. 1,1-3.14) „gemacht, und ohne ihn ist nichts gemacht, was (doch) gemacht ist.“ Johannes geht es um den Glauben, dass Gott in Christus aus dem Nichts heraus die Welt gemacht hat. Denn was ihm am Weltanfang mit dieser Schöpfung möglich gewesen ist, wird ihm auch nach unserem natürlichen Tod möglich sein: Die Neuschaffung der Welt, unsere Neuschaffung aus dem Nichts.

 

V. Neugeborenes und neugebärendes Christentum

 

Dieses Vertrauen in die Kraft, in die Liebe und den Lebenswillen Gottes in Christus will der vierte Evangelist wecken und stärken. Die Alternative zur Vision eines religionslosen Christentums ist also nicht automatisch ein religionsvolles Christentum, das in seiner Pracht und Herrlichkeit geradezu alles erdrückt, was auch nur den Hauch einer Kritik äußert, die von Menschen vorgebracht wird, die mit Krankheit, Krieg und Tod andere Erfahrungen gemacht haben, als dass sie an Auferstehung glauben könnten.

Der Sonntag Quasimodogeniti möchte ein neugeborenes und neugebärendes Christentum; eine Gemeinschaft der Gläubigen, die an der Geburtsstunde des Glaubens beteiligt ist. Wer den Aufwand in den Kreissälen dieser Welt verstehen will, muss wohl selbst einmal so ein kleines nacktes Baby an der Brust gehabt haben, in dem man seine eigen ganze Schutzbedürftigkeit spürt und fühlt.

Wie steht es da um die Geburtsstunde eines Glaubenden? Schauen wir auf den Evangelist Johannes als einen der biblischen Geburtshelfer oder „Hebamme“ des Glaubens. Er bleibt bis zum Ende seines Evangeliums Menschen wie Thomas treu, Menschen, die den Nachweis der Auferstehung suchen. Johannes setzt sich nicht ab von seiner Kirche und zieht sich nicht zurück in einen Elfenbeinturm der Wissenschaft und Philosophie, in dem sich die Menschen zu gut dafür sind, den Kindern Osternester zu bauen, spannende Geschichten von Mose und dem Auferstandenen zu erzählen oder auch mit einem Sterbenden, der an der Auferstehung zweifelt, dem Schöpfer für seine Lebenskraft zu danken, die stärker ist als der Tod. Menschen wie Johannes - auch wenn man beim 4. Evangelisten das Abendmahl vermisst - nähren ihre Hoffnung auf ewiges Leben zusammen mit der ganzen Gemeinde an einem Schlückchen Wein und mit einem ungesalzenen Brotstück; denn noch keiner von uns ist gestorben und mancher – ob er Flüchtling ist oder Nachbar – braucht vielleicht nicht erst im Sterben den Erweis von Liebe und Zuwendung, um wieder an das Leben aus Gottes Hand glauben zu können. Darum lasst uns gemeinsam zu unserer Kirche stehen und mit hin zu vielen, die nach glaubwürdiger Liebe und Anerkennung suchen. Amen.

 

Und die Liebe Gottes bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.



Autor: Pfarrer Martin Kleineidam