Ausschnitte des Wandels der Welt

Lukas 10,17-20


(17) Die Zweiundsiebzig aber kamen zurück voll Freude und sprachen: „Herr, auch die bösen Geister sind uns untertan in deinem Namen.“

 

(18) Er sprach aber zu ihnen: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. (19) Seht, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und Macht über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch schaden.

 

(20) Doch darüber freut euch nicht, dass euch die Geister untertan sind. Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind.“

 

I. Rettung

 

Liebe Gemeinde,

 

um manche Dinge richtig zu verstehen, ist es entscheidend, welche Brille man aufsetzt. Wie schwierig und doch so einfach manche Dinge einzusehen sind, mag folgende Geschichte zeigen:1

 

„Ein furchtbarer Sturm kam auf. Das Meer tobte und meterhohe Wellen brachen sich ohrenbetäubend am Strand.

 

Als das Unwetter nachließ und der Himmel aufklarte, lagen am Strand unzählige Seesterne, die die Wogen auf den Sand gespült hatten. Ein kleines Mädchen lief am Wasser entlang, nahm einen Seestern nach dem anderen in die Hand und warf ihn zurück ins Meer.

 

Ein Spaziergänger sah das und sprach das Mädchen an: >Ach Kleine! Was du da machst ist vollkommen sinnlos. Siehst du nicht, dass der ganze Strand voll von Seesternen ist? Die kannst du niemals alle zurück ins Meer werfen! Was du da tust, ändert nicht das Geringste!<

 

Das Mädchen schaute den Mann an. Dann nahm sie den nächsten Seestern und warf ihn in die Fluten. >Für ihn wird es etwas ändern!<“

 

II. Weltveränderungen und der Retter

 

Nicht nur bei dieser Geschichte, ebenso bei Lukas, wie vorhin gehört, beobachten wir gewaltige Veränderungen der Welt.

Bei der Seesterngeschichte ist es ein gewaltiger Sturm, der das Meer aufpeitscht und unzählige Gewebetiere auf das Land wirft, ganz so wie wir unlängst in den Medien eine Kinderleiche gesehen haben, die die See an irgendeinen Mittelmeerstrand gespült hat.

Mit Lukas und Johannes von Patmos blicken wir in die mythologische Welt der Dämonen, in den Kosmos von Drachen, Schlangen, Skorpionen, von Teufel und Satan auf der einen und dem Erzengel Michael und seinen Engeln auf der anderen Seite. Mythische Kämpfe sehen wir – ganz ähnlich wie manche von uns diesen Sommer in die Götterwelten Richard Wagners eingetaucht sind mit Wotan, Fricka, Fafner oder den Walküren.

Hier droht ein Sturm die Schönheit der Schöpfung und ein Kinderherz zu verderben. Dort stürzt der Satan vom Himmel und ängstet mit seinen Geistern die Erde. Da brennt Walhall, die Weltesche fällt und den Göttern dämmert das Ende.

Und da sind noch unsere Welten mit ihren Verwerfungen, Intrigen und Betrügereien - wie bei einigen Autokonzernen -, in deren Mitte wir oftmals ahnungslos stehen, ohne klären zu können, warum vieles in Unordnung gerät. Woran soll man sich halten? An welche Retter soll man sich orientieren?

 

III. Der Mensch zu schwach

 

Im Ring des Nibelungen von Wagner wird klar, die Menschen sind zu schwach, als dass die Götter noch etwas Gutes von ihnen hören könnten. Die Menschenkinder erliegen stets ihren Leidenschaften der Gier, Eifersucht und Rache. Mit ihrer Fehlbarkeit ist auch das Ende der Götter besiegelt, die mit ihren ewigen Ansprüchen an die Menschheit gescheitert sind. Mit Dante könnte man angesichts der Weltenbrände sagen, „Lasst (…) alle Hoffnung fahren!“

Und bei der Geschichte mit den Seesternen? Schauen wir uns den Spaziergänger an, der die Rettungstat des kleinen Mädchens in Frage stellt: >Ach Kleine! (…) Siehst du nicht, dass der ganze Strand voll von Seesternen ist? Die kannst du niemals alle zurück ins Meer werfen! Was du da tust, ändert nicht das Geringste!< Der Erwachsene ist ein Rationalist. Mit mathematischer Genauigkeit erkennt er, dass die Summe aller geretteten Fünfbeiner um ein vielfaches kleiner sein wird, als die Masse aller ausgetrockneten Kalkplättchenträger. Sinnvoll wäre für den Mann wohl nur die Rettung aller Seesterne; ansonsten sollte man den Kraftaufwand bleiben lassen. Gewiss, der Mann ist gründlich, an Vernunft und Perfektion orientiert. Aber ihm fehlt neben der Brille der Aufklärung die Brille der Liebe. Das Kind, und nur so hätte er das Mädchen verstehen können, liebt Seesterne über alles. Wegen der Liebe setzt es alles daran, so viele wie möglich zu retten.

 

IV. Jesus bereinigt den Himmel

 

Vielleicht haben wir durch die Brille der Liebe den Rationalisten in uns zum Schweigen gebracht, aber wohl noch nicht zum Handeln. Darum noch tiefer gefragt: Im Grunde bleibt die Anklage des Spaziergängers nur an der Oberfläche. Vielmehr hätte er das Mädchen ganz anders verunsichern können. „Schau dir an, was Gott alles zulässt. Die ganzen Seesterne, die du liebst, lässt er mit einem einzigen Sturm vertrocknen! Was willst Du gegen diese Macht tun?“

Und in der Tat, liebe Gemeinde, mit Martin Luther, unseren jüdischen und muslimischen Mitgläubigen können wir Gott als Schöpfer und gegenwärtigen Herrn der Geschichte nur ehren. Wir sollten ihn auch fürchten; denn er hat die Macht, Leben zu geben und glücken zu lassen. Er hat als Schöpfer des Universums aber auch die Stärke Leben scheitern zu lassen und zu vernichten.

Um aber den Liebeswillen Gottes im Herzen behalten zu können, ist uns von Luther angeraten, allein auf Jesus zu blicken. In unserem Abschnitt bereinigt (θεωρέω/Theoreo vgl. Theorie/ meint ein verändernde Schau) er den Himmel. Der Satan, der Ankläger, der in der Paradieserzählung als Schlange auftaucht oder bei Hiob als schlechter Berater Gottes, fällt vom Himmel. Jesus antwortete mit der gleichen Sprache (des Mythos), mit dem seine Jünger auf ihn zukamen: „Herr, auch die bösen Geister sind uns untertan.“

Doch es geht ihm gar nicht um die Dämonen, Schlangen, Teufel und Skorpione. „Freut euch nicht, dass euch die Geister untertan sind!“ rät ihr Meister. Er hat eine andere Theorie.

 

V. Als für den Himmel Bestimmte lieben und retten

 

Es geht darum, ob uns Gott wirklich wohl gesonnen ist - der, der die Macht über Leben und Tod besitzt. „Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind.“ meinte Jesus. Der Himmel ist seiner Meinung nach nicht ausgebrannt und leer wie in Wagners Ring der Nibelungen angedeutet. Er ist bevölkert und voller Namen geschrieben, wie es der Himmelskönig in dem Bildwort sagt, (das im alten Orient weite Verbreitung fand). Eure Namen sind im Himmel geschrieben, meint, dass unsere Namen für die Ewigkeit bestimmt sind, unauslöschlich und unumstößlich, was immer für Gewalten an den Gläubigen nagen mögen. Denn ihre Namen sind an den einen Namen gebunden, mit dem die Gefolgsleute Jesu zwar nicht den Himmel aber doch die Erde bereinigen. „Herr, auch die bösen Geister sind uns untertan in deinem Namen.“ Im Namen des Königs von Himmel und Erde, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

In diesen wenigen Zeilen wird deutlich, dass Jesus mit der Vollmacht Gottes aufgetreten ist. Wenn wir ihn als Retter und Orientierungsperson akzeptieren und zum Handeln kommen wollen, werden wir als leidgeprüfte und kritische Menschen die Worte prüfen, die im Kreis der Jünger und ihrem Meister gefallen sind: „Untertan sein (V. 17), Macht gegeben (V. 19)…“ wie genau soll das gehen? Heißt es am Ende doch wieder nur, „der Ober sticht den Unter“ wie beim Schafkopf? - Im Unterschied zur Naturgewalt und Stärke der Feinde (griechisch: δύναμις/Dynamis vgl. Dynamik) gibt der Himmelskönig den seinen ἐξουσία/Exousia, die Freiheit und Machtvollkommenheit, die sich an das jesuanische Gebot bindet. Und das lautet: Liebet eure Feinde, überwindet die Ankläger und Verwirrer mit Liebe! (Lukas 6, 27) Nur deswegen kann man sich zwischen so manchen "Schlangen" bewegen ohne vergiftet zu werden, weil auch sie für Liebe empfänglich sind. - Vielleicht glaubt man ja einem Pfarrer in dieser Sache nicht so ganz. Er muss ja so reden, weil er doch dafür bezahlt wird. Vielleicht glauben Sie aber einem Manager, der mir mitten in der Finanzkrise von 2008 gesagt hat: „Glaube Sie mir, auch ein Finanzhai möchte nichts anderes, als geliebt zu werden.“ –

Da wären wir wieder bei unserem Spaziergänger und dem Kind am Meer. Ein Kind mit dieser Geistkraft hätte dem Rationalisten am Seesternstrand in seiner Gotteskritik geantwortet: „Ich weiß von Mama und Papa, dass Gott mich und diese Welt liebt; denn Jesus ist der Freund der Kinder. Er liebt auch Dich. - So, und nun hilf mir noch ein paar mehr Stachelhäuter zu retten, auch wenn wir Gott nicht ganz verstehen; denn für jeden einzelnen Geretteten macht es einen Unterschied, ob er langsam in der Sonne verendet oder eine neue Chance bekommt, mit seinen vielen kleinen Füßchen wieder Muscheln knacken zu können. Du musst nur mal die Brille der Liebe aufsetzen, dann wirst Du sehen, wie Jesus es sah: Der Himmel ist voller Namen geschrieben.

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen


 

1 Andere Zeiten e. V., Oh! Noch mehr Geschichten für andere Zeiten, mit Illustrationen von Ariane Camus, Hamburg 2010, 14f.

 

 



Autor: Pfarrer Martin Kleineidam