"wie auch wir vergeben unsern Schuldigern"

Matthäus 18,21-35


„wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“

 

Liebe Gemeinde,

ich muss mit einem Geständnis beginnen: Die Geschichte vom „Schalksknecht“, unser heutiges Sonntagsevangelium und zugleich Predigttext, ist mir vielleicht die allerliebste im Neuen Testament. Das kommt wohl auch daher, dass ich damit einen meiner zwei größten Unterrichtserfolge in der Schule hatte, als junger Pfarrer in Coburg, dem das Unterrichten vor allem in den mittleren Klassen der Realschule nicht so leicht fiel. In der dritten oder vierten Klasse der Grundschule, in der die Geschichte auf dem Lehrplan stand – es war die ungeliebte sechste Stunde, in der oft die Aufmerksamkeit nachlässt, die Unruhe dafür umso mehr wächst – klagten mehrere Kinder beim Klingelzeichen um 13 Uhr: Ach, ist die Stunde schon vorbei! (Und das ehrlich). Ich hatte ihnen diese Geschichte erzählt, und sie konnten sich so richtig aufregen über diesen Knecht, diesen Schalk. Dabei geht es gar nicht lustig zu, sondern endet todernst. Aber „Schalk“ bedeutete früher eben nicht Clown oder Witzbold, der manchem im Nacken sitzt und irgendwelche Späße einflüstert. Schalk hieß früher ganz einfach „Knecht“. Vielleicht übersetzen wir dann das doppelt gemoppelte „Schalksknecht“ etwas ordinär mit „Saukerl“.

Vielleicht ist es ein pädagogischer Trick, mit solchen extremen Negativbeispielen zu arbeiten. Wer sich hineindenkt, wer sich mitnehmen lässt in diese spannende Geschichte, wird sich ziemlich aufregen. Egal ob man sich zunächst mit dem Schalksknecht identifiziert und sich in ihn hineinversetzt oder mit dem Mitknecht, der die paar Mark nicht gleich zurückzahlen kann. Empörung und absolutes Unverständnis kam nicht nur bei meinen Viertklässlern hoch. Empörung und absolutes Unverständnis löst die Geschichte zwangsläufig aus. Sie setzt bei einem Thema an, das wir kennen, manche aus eigener Erfahrung. Schulden haben die meisten von uns schon irgendwann einmal gehabt. Manche kennen auch Schulden, die einen nicht mehr ruhig schlafen lassen. Überschuldung, das heißt: Mahnbescheide, Androhung von Pfändung, Gerichtsvollzieher, ja bis hin zur Taschenpfändung, dass jemandem auf der Straße der Geldbeutel weggenommen werden kann, wenn etwas mehr drin ist; oder sogar Haftstrafen, wenn nicht rechtzeitig Privatinsolvenz angemeldet wird. Die Folgen waren damals ähnlich, nur noch drastischer. Da wurde nicht nur Hab und Gut verkauft, das Haus zwangsversteigert. Da wurden Menschen als Sklaven verkauft, nicht nur der Mann, der Ernährer der Familie, sondern gleich noch Frau und Kinder. Für uns wohl unvorstellbar, was es bedeutete, dass die Frau und die Kinder verkauft würden, auseinander gerissen, einem anderen gehören, der mit ihnen machen kann, was er will. Man kann sich da einiges ausdenken. Unvorstellbar für uns, aber damals rechtens. Die Existenz dieser Familie war völlig zerstört. Zum Glück gibt es bei uns andere rechtliche Möglichkeiten, wenn jemand heillos überschuldet ist.

Aber wir sollen uns das Ausmaß dieser persönlichen Katastrophe nur drastisch genug ausmalen. Dann können wir zwei Dinge auch drastisch genug empfinden: dass der König die Schulden einfach erlässt, aber der Knecht seinen Kollegen ins Gefängnis stecken lässt. Gesteigert wird das alles durch die Beträge: zehntausend Zentner Silber hier und hundert Silbergroschen da. Zehntausend Zentner Silber, das ist unvorstellbar, unendlich. Hundert Silbergroschen, das mag für sich gesehen auch viel sein, aber doch gar nichts im Vergleich dazu.

Ein Extrembeispiel, über das man sich sehr gut empören kann. Aber dazu erzählt Jesus diese Geschichte nicht, damit wir uns über andere aufregen können. Sich über andere aufregen, dient oft dazu, sich selbst besser vorzukommen. Nicht immer. Die Kollegen, die alles mitbekommen, regen sich auf – es heißt sehr verharmlosend, sie wurden sehr betrübt, nicht weil sie als die besseren Menschen oder Christen dastehen wollten, sondern weil die Gerechtigkeit auf den Kopf gestellt war. Die Kinder im Alter von neun bis zehn besitzen ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Auch deshalb wollten sie wohl gar nicht mehr aufhören, über diese Geschichte zu reden. Es ist schon ein Unterschied, ob man sich aufregt und empört, um selber besser dazustehen, oder weil es einfach ungerecht ist, unverständlich, so ein Verhalten. Wie kann man nur so gespalten sein: alles geschenkt bekommen, eine unendliche Schuld, und dann lieblos auf der Rückzahlung eines „Kleckerlesbetrags“ zu beharren. Das geht einfach nicht zusammen.

Muss Jesus am Ende wirklich die „Moral von der Geschicht“ zusammenfassen, dass es eben nicht um ein Extrembeispiel geht, das in der Wirklichkeit selten oder nie vorkommt, sondern dass es um uns alle geht? Vielleicht brauchen manche den Wink mit dem Zaunpfahl, die Gebrauchsanweisung für die Geschichte. Dabei ist doch von Anfang an klar, dass es mal ausnahmsweise nicht ums Geld geht, nicht um Schulden, sondern um Schuld, nicht um Schuldenerlass, sondern um Vergebung, nicht darum, auf andere zu zeigen und sich über sie aufzuregen, sondern die einfache Bitte im Vaterunser: Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Aber übertreibt Jesus nicht wieder einmal maßlos? Genauso wie mit dem Splitter und dem Balken im Auge; dass wir selbst einen Balken hätten, den wir zuerst herausziehen sollen, und der andere dagegen nur einen Splitter, um den wir uns dann auch noch kümmern könnten. Gut, im eigenen Auge da wirkt der Splitter tatsächlich wie ein Balken, weil er einem die ganze Sicht nimmt. Mit einem Splitter im Auge sieht man gar nichts mehr, der wirkt wie ein Brett vor dem Kopf. Aber bei der Schuld? Ist das nicht maßlos übertrieben: Zehntausend Silberzentner gegen hundert Silbergroschen? Das ist kein Vergleich wie bei einer Balkenwaage oder, dass der eine einen solch großen Haufen hat und der andere nur ein paar Körnchen. Das ist eine andere Qualität. Ein paar zählbare Körnchen, ein paar Groschen, die zwischen dem Knecht und seinem Kollegen stehen, aber unfassbar, unendlich viel zwischen dem Knecht und seinem König, zwischen Gott und uns. Das lässt sich nicht vergleichen. Das ist eine andere Qualität.

Jetzt müsste ich Ihnen aber genauer beschreiben, worin dieser Qualitätsunterschied besteht. Was ist der Unterschied zwischen der Sünde, also der Schuld bei Gott und der Schuld beim anderen? Die Schuld beim anderen, das was ich ihm getan habe, von einem bösen Wort, übler Nachrede bis hin zu Diebstahl und Gewalttat oder vielleicht noch mehr, was ich versäumt habe an Liebe, an Hilfe, an Aufmerksamkeit, das ist doch viel greifbarer als das in Bezug auf Gott. Eine Konfirmandin fragte mich sogar: Was geht es Gott an, wenn ich meine Schwester schlage oder ihr den Lippenstift klaue? Das ist doch eine Sache zwischen uns beiden, wieso ist das eine Sünde? Diesen Qualitätsunterschied kann ich Ihnen schwer erklären. Es heißt ja auch: wir sollen Gott lieben und unseren Nächsten. Da wird doch auch kein Unterschied gemacht, sozusagen zwischen den Geboten der ersten Tafel, in denen es um Gott geht, und denen der zweiten Tafel, die das Zusammenleben der Menschen regeln.

Deswegen will ich anders herum ansetzen. Nicht bei der Schuld, sondern bei der Vergebung. Diese ganze schreckliche Beschreibung, was der Mann seinem König alles schuldet und welche Strafen ihm und seiner Familie drohten, das dient doch nur dazu, auszumalen, was das für ein Geschenk ist: Vergebung. Für den Knecht hätte es ein neues Leben bedeuten können. Keine schlaflosen Nächte, in denen er sich hin und her wälzt, weil die Schuld ihm keine Ruhe lässt; Nicht mehr diese Unruhe, weil das dünne Eis jeden Moment einbrechen kann, wenn der Chef ihn zu sich ruft, wenn die Bücher geprüft werden. Deswegen wird doch diese ganze Drohkulisse aufgebaut, damit wir ein bisschen ermessen können, was nicht nur dem Schalksknecht geschenkt wurde, sondern was uns von Gott täglich neu geschenkt wird. Die Frage ist natürlich, ob wir solche Drohkulissen brauchen, ob es nötig ist, diese Höllenqualen auszumalen, dass die Frau und die Kinder verkauft werden.

Der positive Grundansatz hinter diesem Negativbeispiel ist doch: Wem so etwas Unbegreifliches, Überwältigendes, Wunderbares passiert ist, wer diese Großzügigkeit erlebt hat, der kann nicht kleinlich, kleinkariert und hartherzig auf sein Recht pochen. Hinter dem Negativbeispiel steckt der Glaube, den man fast schon als Automatismus bezeichnen könnte: ein guter Baum bringt gute Früchte. Und wir kennen wohl solche Momente, in denen wir überwältigt sind vom Glück, von einem Geschenk, sei es materiell wie das Auto, das meine Frau und ich in jungen Jahren geschenkt bekamen von Freunden, oder sei es nicht materiell, wie ein überströmendes Glück, eine Freude; diese glühende Backofen er Liebe, der wie in unserem Kamin bei großer Hitze auch den Ruß an der Wand auflöst. Es gibt diese Selbstverständlichkeit, dass man Großzügigkeit erlebt hat, sei es von Gott oder von Menschen und dann eben nicht anders kann, als selbst großzügig zu sein, weil einem das Herz aufgegangen ist.

Dass Jesus diese Geschichte erzählen muss, zeigt uns: Es geht eben nicht immer so automatisch. Wir müssen sogar möglichst täglich daran erinnert werden, wenn wir das Vaterunser beten: wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Wir müssen immer wieder erinnert werden: was wir von Gott geschenkt bekommen haben; die Geschichte vom Schalksknecht soll uns die Augen öffnen für die Größe dieses Geschenks: Vergebung, Erlass aller Schuld und damit Freiheit. Sie malt es aus und regt an, es sich selbst immer wieder auszumalen: meine zehntausend Silberzentner; all das Unfassbare, Unglaubliche, Wunderbare – auch wenn es sich um kleinere Summen handelt. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Auch im Psalm 103 kommt als erstes die Vergebung. Das muss schon ein ganz besonderes Geschenk sein, viel mehr wert als alles, was man noch aufzählen könnte. Wir müssen aber auch immer wieder erinnert werden: wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Weil das eben nicht so automatisch geht, dass der, der reich beschenkt ist, sich auch entsprechend großzügig verhält. Weil es eben diese unbegreifliche Gespaltenheit des Schalksknechts gibt, so viel und so viel Unverdientes bekommen zu haben, aber alles für sich zu wollen und nicht zu merken, wie wahnwitzig man sich verhält.

Natürlich wirft diese Geschichte auch noch andere Fragen auf. Zum Beispiel, wie dieses Vergeben sich dazu verhält, dass wir manchmal hart sein müssen, auf unserem Recht bestehen oder strafen müssen. Heute aber bleiben wir bei allen berechtigten Einwänden, dass diese Geschichte und die Anweisung an Petrus,  sieben  Mal siebzig Mal am Tag zu vergeben, kein immer gültiges Patentrezept sein kann, bleiben wir dabei: wenn man es positiv nimmt, ist es die schönste Geschichte der Welt. Amen



Autor: Hans Peetz