Zeiten nahe am Heil

Eine Sternstunde? Kinderchorkinder schmückten zur Einweihung der Stadtkirche die drei Stufen zum Chorraum mit Blumen. Foto: Jutta Geyrhalter

Alsamhi, Kotaeba, ohne Titel, 30.05.2015.Foto: Martin Kleineidam

Römer 13,8-14


(8) Seid niemandem etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. (9) Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« (10) Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

(11) Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. (12) Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen.

So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. (13) Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht; (14) sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.

 

 

Liebe adventliche Gemeinde,

 

I. Liebe als höchste Form des Gesetzes und den günstigen Augenblick erkennen

 

Die Liebe ist eine enorme Herausforderung; doch mit Liebe die Zeit wahrzunehmen, schenkt Sternstunden.

 

Wenn der Apostel Paulus sagt: „Seid keinem Menschen etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt“, dann fasst er nicht nur die Richtlinien des Alten Testamentes zusammen, sondern bringt das Gewicht dieser Gesetze auf den Punkt. Wie stark diese Anforderungen der Liebe sein können, hat der dänische Philosoph Søren Kierkegaard so ausgedrückt: „So bleibt denn keinem Menschen etwas schuldig, nichts, was du von ihm geborgt hast, nichts, was du ihm versprochen hast, nichts, was er mit Recht als Entgelt verlangen kann. Bleibe, wo möglich, keinem Menschen etwas schuldig, keine Zuvorkommenheit, keinen Dienst, keine Teilnahme in Freude oder Trauer, keine Schonung im Urteil, keine Hilfe im Leben, keinen Rat in Gefahren, kein Opfer, und wäre es das schwerste, nein, in all diesem bleibe keinem Menschen etwas schuldig; bleibe aber dennoch in der Schuld, die du mit all diesem keineswegs hast abzahlen wollen und vor Gott keineswegs hast abzahlen können, der Schuld, einander zu lieben!“[1]

 

Allein der Satz „Bleibe niemanden etwas schuldig, was du versprochen hast!“ bringt einen ins Grübeln. Was hat man doch schon alles versprochen und nicht gehalten. „Ich ruf Dich an.“ „Mensch, da machen wir was aus.“ „Ich schreib Dir ne Mail.“ Die Reihe nicht eingehaltener Versprechen ließe sich problemlos fortsetzen. Freilich kann man daran arbeiten. Aber wie steht es mit der Liebe? Hier bleiben wir auch der Erfahrung nach vielen Menschen etwas schuldig und ringen darum, wie sich die Schuld aufheben ließe. Darum möchte ich gleich mit Ihnen auf den 2. Teil der paulinischen Ausführungen gucken, der uns leitet, wie wir liebesfähig werden: „Das tut, weil ihr die Zeit erkennt.“ Sagt der Apostel. Im Griechischen steht für das Wort „Zeit“ „Kairos“, der günstige Augenblick, auf den die griechischen Philosophen Wert gelegt hatten. „Ihr kennt ihn“, wird uns zugesagt.

 

Ja, was waren zum Beispiel die Sternstunden im vergangenen Festjahr der Wiedereinweihung der Stadtkirche? War es die Aufführung von Bachs Messe in h-moll oder die Uraufführungen Sancta Trinitas oder das Kindermusical “Unsere Stadtkirche“? Waren es die zahlreichen Gottesdienste wie nach der Form von Taizé, ein Tanzgottesdienst oder die Andachtsreihe „Macht hoch die Tür“? Waren es ein Vortrag aus der Reihe „Theologischer Sommer“ oder eine Theateraufführung wie Lucas-Maler zu Wittenberg? War es eine Ausstellung zum Festjahr wie „Werden und Vergehen“? Oder waren es Orgelerlebnisse wie das Konzert für Trompete & Orgel im August?

 

Eine Sternstundenfrau ist mir noch vom letzten Dezember in Erinnerung geblieben, die gesagt hat, dass sie nach dem Wiedereröffnungstag immer noch wie auf Wolken schwebt. An diesen Tag erinnert mit gleichem Liedgut von damals der Kinderchor, der auch die Altarstufen mit Blumen geschmückt hat. An diesen Weihetag erinnert heute außerdem der  Posaunenchor, der den zweiten Festgottesdienst mit ausgestaltet hatte und natürlich die vielen Menschen, die vor einem Jahr mitgewirkt haben.

 

II. Das Rätsel der Sternstunden

 

Wie aber erkennt man eine Sternstunde? Es gibt Sternstunden, die kann man mit Spende einkaufen, so der Titel einer bekannten Aktion des Bayerischen Rundfunks. Das aber scheint hier nicht gemeint zu sein. Die Sternstunden, die Paulus im Blick hat gehen durch einen hindurch, haben etwas mit dem Glaubensleben zu tun. Sie bleiben also nicht an der Oberfläche eines Geldtransfers, obwohl der freilich auch ganz schön schmerzen kann.

 

Es geht Paulus um unser Heil. Bei Sternstunde mag daher der ein oder die andere an die Begegnung von Mann und Frau denken (vgl. schon Römer 13,13 u.a. das Stichwort "κοίτη" in der Aufstellung der Kritik am Kaiserhaus). Dabei stimmt eine Parallele: nämlich das Jetzt. So wie bei dem schwäbischen Witz: Was rufen die Schwaben beim Höhepunkt der sexuellen Begegnung: --- "Etzertle" --- Es geht tatsächlich um das Jetzt. Aber damit endet schon die Parallele. Denn trotz der Lyrik der vorgedrungenen Nacht und des anbrechenden Tages geht es nicht um einen Beischlaf allzu flüchtiger Sternstunden, sondern es geht Paulus darum vom Schlaf aufzustehen.

 

In dem Buch Momo von Michael Ende besitzt ein Mann namens Secundus Minutius Hora eine Sternstundenuhr, eine Uhr ohne Zeiger und Zahlen, aber mit zwei feinen übereinanderliegenden gegenläufiger Spiralen, an deren Kreuzpunkten winzige Lichtpunkte aufleuchteten. Hora erklärt dem Mädchen Momo eine Sternstunde folgendermaßen: „Nun, es gibt manchmal im Lauf der Welt besondere Augenblicke, wo es sich ergibt, daß alle Dinge und Wesen, (…) bis zu den fernsten Sternen hinauf, in ganz einmaliger Weise zusammenwirken, so daß etwas geschehen kann, was weder vorher noch nachher je möglich wäre.“[2] Das Problem gibt Hora freilich gleich mit: „Leider verstehen die Menschen sich im allgemeinen nicht darauf, sie zu nützen, und so gehen die Sternstunden oft unbemerkt vorüber.“[3]

 

III. Momo kommt hin, wo die Zeit herkommt

 

Daher trug in dem Märchen-Roman Meister Hora das Mädchen in einen großen gewölbten Kuppelraum. „Hoch oben in der Mitte war eine kreisrunde Öffnung, durch die eine Säule von Licht senkrecht herniederfiel auf einen ebenso kreisrunden Teich, dessen schwarzes Wasser glatt und reglos lag wie ein dunkler Spiegel.“[4] Dicht über dem Wasser erkannte Momo ein funkelndes Sternenpendel, das in majestätischer Langsamkeit hin und her schwang. Immer, wenn sich das Pendel dem Rand dieses Teiches näherte, tauchte eine wunderbare Blütenknospe aus dem dunklen Wasser auf, eine Sternstunde, die dann voll erblüht auf dem Teich lag, wenn das frei schwebende Pendel genau über dem Rand die Richtung wechselte. Danach erstarb die Blüte wieder und auf der anderen Seite des Sees erblühte eine neue Pracht.

 

In der Lichtsäule war ein Tosen zu hören, das Momo nach und nach als klingendes Licht voller sich ändernder Harmonien. Die Klänge kamen von Stimmen der Sterne, deren Namen für das Entstehen der Stunden-Blumen sorgten. Momo begriff, dass alle diese Worte an sie gerichtet waren. „Die ganze Welt bis hinaus zu den fernsten Sternen war ihr zugewandt wie ein einziges, unausdenkbar großes Gesicht, das sie anblickte und zu ihr redete!“[5]  Momo wollte davon singen, anderen Menschen von diesem Wunder jeder Stunde erzählen.

 

Meister Hora offenbarte der kleinen Momo, dass er sie in ihr eigenes Herz getragen hatte und dass die Worte für andere erst in ihr wachsen müssten. Und dazu müsste sie schlafen.

 

Wir merken, wie nahe Ende hier dem Apostel Paulus kommt. Es geht um die Seele des Menschen, dieses wunderbare Organ, das sich anatomisch nicht auffinden lässt.

 

IV. Den Kairos in der eigenen Hingabe für andere erblicken

 

Und doch endet Ende mit dem Schlaf. Ja, aber gerade die durch ein Pendel hervorgerufene Hypnose hat Paulus gerade nicht vor Augen. Gleichwohl Schlaf ein kostbarer Schatz ist und neue Kräfte freisetzen kann.

 

Momo erkennt in Meister Hora den Tod[6]. Er stellt sich als den Verwalter der Zeit dar, der eine Allsichtbrille besitzt und auf wunderbare Weise sein Aussehen und seine Kleidung den Zeiten anpassen kann. „Wenn die Menschen wüßten, was der Tod ist,“ entgegnete Hora Momo, „dann hätten sie keine Angst mehr vor ihm.“

 

Sehr viel nüchterner sah der Theologe Rudolph Bultmann den Tod. Er konnte mit mythologischen Bildern und lyrischen Beschönigungen nicht viel anfangen. Er predigte: „Das wissen wir, dass für einen jeden unter uns die Welt früher oder später ein Ende nimmt, dass in der Stunde unseres Todes alles zerbricht und versinkt, was uns hier einen Halt gab, was Inhalt unseres Lebens war an Sorge und Arbeit, an Freude und Leid.“[7] Ihm ging es bei der Adventszeit um eine echte Advents-Bereitschaft, echtes Warten auf den, der kommt.

 

Um im Kuppelraum von Michael Ende zu bleiben, sollten wir aus christlicher Perspektive vielleicht mehr dem dunklen Teich in unserem Herzen unsere Aufmerksamkeit schenken, wenn wir den echten Sternstunden auf die Spur kommen wollen.

 

Meine Sternstunde im Festjahr war im Nachhinein betrachtet folgender: Zu meinem Geburtstag erhielt ich von einem Syrer, der mit seinem Freund einige Monate bei uns zu Gast war, dieses selbst gemalte Bild geschenkt. Die Bleistiftzeichnung  zeigt links ein Gebirge und rechts auf dem Meer in einem Boot zwei wegrudernde Menschen. Eine große einzelne Palme ragt im Vordergrund in das Bild und verleiht ihm Schönheit aber auch Traurigkeit. Wolken durchziehen den Himmel. Viele Vögel sind dazwischen unterwegs. Das was mich gefreut hat war, dass das Meer ruhig geworden ist. Die Wolken sind zwar noch bedrohlich, aber der Weg der beiden scheint im ruhigen Fahrwasser. Was sind Sternstunden? Ich fürchte, sie sind für unsere Augen im Moment des Geschehens verborgen. Vom Erleben her fühlen sie sich womöglich ganz anders an als das Staunen über aufblühende Stunden-Blumen. Da teilt man Wohnraum, muss unterschiedliche Sitten, Essens- und Schlafgewohnheiten, ja sogar eine andere Religion aushalten. Man macht sich für andere Kopfzerbrechen, wie es weitergehen soll, man macht sich angreifbar in der Familie und in der Gesellschaft.

 

Das Geschenk des Muslim zeigt mir erst im Nachhinein, dass da vielleicht eine Sternstunde bei dem anderen da war, wo man vielleicht das Glück hatte, mitwirken zu dürfen. Sicher ist das nicht, die Sternstunden wollen geglaubt werden.

 

V. Als Getaufte die Zeit erkennen – Sternstunden erleben

 

Es gibt also die Zeiten nahe am Heil. Wir kennen Sie als Christen, sagt Paulus. Wir sind diesen Sternstunden in der Reife eines Christenleben womöglich noch näher als am Anfang, als wir gläubig wurden, wie Paulus sagt. Im Leben des Apostel Paulus war es nämlich ein Mann namens Hananias, der aus Sicht der Apostelgesichte sich um den jungen Saulus mühte und mithelfen durfte, dass ein Paulus aus ihm wurde, so wie wir ihn kennen. Als Getaufte, die sich nicht nur von einem spirituellen Glücksmoment zum nächsten hangeln, so wie man alle zwei Jahre den Kirchentag zum Beispiel genießen kann, sehen wir für die nächsten 365 Tage den Gekreuzigten. Ihn sollen wir anziehen. Wir sollen wie die Kinder sein, die eben nicht nur eine Ritterrüstung anziehen und Ritter spielen, sondern dann tatsächlich auch Ritter sind. So sollen wir Jesus im kommenden Kirchenjahr nachfolgen. Auch hier geht es um eine Waffenrüstung - allerdings um die des Lichts, die wir anlegen sollen.

 

Um noch einmal die Sternstunden des letzten Jahres zu erfassen, gilt es in die dunklen Teiche unserer Stunden einzutauchen, in denen wir für andere da waren, in denen andere ein Schnitz Sternenlicht zu sich nehmen durften. Glücksmomente bei anderen auszulösen, dazu haben letztes Jahr vielleicht die Blumen der Kinder beigetragen, die Musik unserer Chöre, die Gestaltung von Gottesdiensten, Bildungsveranstaltungen, Ausstellungen und Theater. All dazu waren im wahrsten Sinne des Wortes viel Mühen des frühen Aufstehens vom Schlaf nötig. Wenn wir Glück hatten, erfuhren wir  später, dass die Sternstunden anderer auch die unseren waren. - In Augenblicken, in denen es notwendig ist, zu verzichten, zu teilen und Gewohnheiten aufzugeben, hilft uns ein Rückblick freilich wenig.

 

Es gilt, die Gegenwart als Getaufte wahrzunehmen, die als Nachfolgerinnen und Jünger Jesu die Welt liebend betrachten. Aus paulinischer Sicht sammelt Deutschland dieser Tage viele viele Sternstunden. Seien es die Polizisten, die mit vielen Überstunden Flüchtlingen den Weg hierher bereiten, seien es die vielen Ehrenamtlichen, die Fremde willkommen heißen, Zeit und Geld investieren, gepeinigte Menschen willkommen zu heißen und die täglichen Mühen nicht scheuen, Sprache und Kultur zu vermitteln.

 

Auch  im kommenden Kirchenjahr bieten sich viele Möglichkeiten an Sternstunden bei anderen mitzuarbeiten. Da werden eine Million Gäste zur Landesgartenschau erwartet, da will für die künftige Generation eine Zukunft mit einem lebensfreundlichen Klima gestaltet sein, da suchen Trauernde Trost, ängstliche Rückenstärkung, weitere Fremde Zuflucht und und und...

 

Vielleicht gilt es hier wie Meister Hora häufig die Kleider zu wechseln. Vielleicht haben wir keine Allsichtbrille wie er, keine Röntgenbrille wie James Bond; aber wir haben die Brille und die Kleider, ja den Leib unseres Herrn Jesus Christus in Wort und Sakrament, das beginnenden Kirchenjahr und die Menschen in ihm, in der Liebe wahrzunehmen. Bei all den Menschen können wir erkennen, wo und wie andere eine Sternstunde brauchen und ob wir für sie überhaupt zuständig sind. Die Liebe wird erkennen, wo unser Herz tatsächlich gefragt ist, welche Menschen ob fern ob nah uns Gott tatsächlich schickt, um das Geschenk gemeinsamer Sternstunden möglich zu machen.

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

 

Amen

 


[1] Ders., Der Liebe Tun, 1847, Bd. 1: Etliche christliche Erwägungen in Form von Reden. Erste Folge, Gütersloh 1983, 211; zitiert nach Theurich, Hennig in: Predigtstudien II.1, 1997/1998, 17.

[2] Ende, Michael, Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte, Ein Märchen-Roman, Stuttgart 201973, 146

[3] Ende, a.a.O., 147

[4] Ende, a.a.O., 161. Zum Folgenden Seite 162-166

[5] Ende, a.a.O., 165

[6] Ende, a.a.O., 160

[7] Bultmann, Rudolf, Das verkündigte Wort, Predigten – Andachten – Ansprachen, 1906-1941, hg. V. E. Gräßer, Tübingen 1984, 294, zitiert nach Theurich, a.a.O., 13.



Autor: Pfarrer Martin Kleineidam