"Gebrauchsanweisung für den Jahresschluss"

Römer 8,31-39


 

Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?Wie geschrieben steht (Psalm 44,23): »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.« Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

 

Liebe Gemeinde,

nehmen wir die Worte des Apostel Paulus als Gebrauchsanweisung für den Silvester, den letzten Abend des Jahres. Als Anleitung für einen Jahresrückblick oder eine Bilanz des vergangenen Jahres. Und als Anleitung, wie man ins neue Jahr hineingehen könnte. Allerdings scheint im Predigttext beim Thema Rückblick und Bilanz die ganze positive Seite zu  fehlen. So eine Rechnung muss doch heute  niemand aufmachen, wo auf der Habenseite gar nichts steht. Meistens fällt die Rückschau gemischt aus. Von all dem Schönen und Guten, das wir erlebt haben, steht hier nichts. Und schon gar nichts von dem, was wir vielleicht auch gut gemacht haben. Darum geht es Paulus nicht. Aber für uns und unseren Glauben, für unser Verhältnis zu Gott ist schon wichtig, dass es da auch etwas zu danken gibt. Deswegen gehört  das Lied „Nun danket alle Gott“ eben unverzichtbar zum Silvestergottesdienst. Und das nicht nur, weil wir uns nicht als undankbare Kinder gegenüber unserem himmlischen Vater erweisen wollen. Der könnte wohl am allermeisten ein Lied davon singen, das Undank der Welt Lohn ist. Da geht es nicht um das „Sag schön Danke“, das früher den Kindern eingebläut wurde. Sondern um unseren Seelenzustand, ob die Unzufriedenheit regiert, der Pessimismus, das oft lähmende Seufzen und Klagen, oder ob an so einem Abend auch Freude aufkommen darf und Zufriedenheit. Da steckt ja „Friede“. Ob wir also unseren Frieden machen können mit diesem Jahr.

Und da müssen wir wohl unausweichlich auch an Negatives denken. Was lösen diese Worte „beschuldigen“ und „verdammen“ bei uns aus? Das sind ja Worte wie Hammerschläge oder wie Stiche. Es klingt ja fast paradox, wenn Paulus schreibt: Wer will beschuldigen? Wer will verdammen? Hat er nicht selbst seitenweise beschuldigt und verdammt? Was hat er den Leuten nicht alles um die Ohren gehauen, damit sich wirklich keiner mehr ruhigen Gewissens zurücklehnen oder selbstzufrieden mit Fingern auf andere zeigen konnte – was ja immer noch ein beliebtes Ablenkungsmanöver ist. Alle Lebensbereiche hat er durchwühlt und die Sünden ans Licht gezerrt, nicht nur die auf sexuellem Gebiet – bis dorthin, was er „widernatürlichen Verkehr“ nennt; natürlich auch, wenn es ums Geld geht: Habgier, dieses nie genug bekommen; Betrug und Diebstahl, der ja auch ganz legal sein kann. Vor allem aber  legt er die Finger in die Wunden, wo das Zwischenmenschliche gestört ist: vom Neid, den kleinen und großen Bosheiten, die man einander zufügt bis zum Äußersten: dem Hass mit Mord und Totschlag. Und Paulus deckt die Motive im Innersten der Menschen auf, jedes Wort wie ein Stich: hochmütig, prahlerisch, erfinderisch im Bösen, unvernünftig, treulos, lieblos, unbarmherzig.

Und schließlich verdammt er sich selbst, ein Kapitel vorher: Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Auch das gehört zum ehrlichen Rückblick, dass auch bei besten Absichten manchmal genau das Gegenteil von dem heraus kommt, was man wollte. Oder dass man sich selbst nicht mehr kennt, sich – wie es dann heißt – selber vergisst. Am Ende steht ein verzweifelter  Aufschrei: Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leib? Ziemlich trostlos, wenn das das letzte Wort wäre, die Bilanz nach einer langen Abrechnung.

Ich denke, dass es gar nicht darum geht, ob wir auch solch eine deprimierende Bilanz ziehen würden. Wie anfangs gesagt: alles schwarz zu malen und schlecht zu reden, kann nicht Ziel eines Rückblicks sein. Ich verstehe das so, dass Paulus sein Netz ganz weit ausspannt, um alle mitzunehmen; damit keiner ihm auskommt. Ja, zunächst durchaus als Schuldige. Das Sündenregister schließt mit dem Résumé: sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie vor Gott haben sollte. Aber letztlich geht es nicht darum, alle in die Knie zu zwingen, auch die Stolzen, die meinen, sie hätten nichts falsch gemacht. Letztlich geht es darum, dass alle hören und glauben: Wer will beschuldigen und verdammen? Gott ist hier, der vergibt und gerecht macht. Es ist, wie wenn sich das Netz verwandelt. Aus dem Fischernetz, aus dem es kein Entkommen gibt, wird ein Fangnetz. Nicht eines, das einfängt, sondern eines, das auffängt. Vielleicht sogar so etwas wie eine Hängematte, in der die Seele Ruhe und Entspannung findet. In der Hängematte kann man manches fallen lassen, was einen belastet. Vielleicht führt man sogar Selbstgespräche, wenn dieser Unruhegeist in einem, der einem selbst manchmal zum Feind werden kann und der einen immer wieder daran erinnert, immer wieder alles Mögliche vorhält – vor allem, was man versäumt hat – vielleicht kann man wie Martin Luther mit ihm reden: Lass mich in Ruhe. Wenn du etwas willst, wenn du mich beschuldigen und verklagen willst, wende dich an meinen himmlischen Richter. Der hat mich längst gerecht gesprochen.

Soweit also der erste Teil der Gebrauchsanweisung zum Jahreswechsel aus dem Römerbrief. Im zweiten Teil gibt es eine Anleitung, wie wir in die Zukunft, in ein neues Jahr gehen sollen. In die Zukunft  zu schauen, das täten viele gerne. Aber was würde es einem bringen, zu wissen, was 2016 geschehen wird; wenn man es nicht ändern und dem Geschehen einen anderen Lauf geben könnte. Das wäre ja noch schlimmer, wenn man es auf sich zukommen sieht und könnte nichts tun. Sterndeuterei gibt es hier  jedenfalls nicht und auch kein Jahreshoroskop. Beim Zinngießen entstehen manchmal sehr kunstvolle Formen, aber über die Zukunft lässt sich nichts daraus ablesen, genauso wenig wie aus der Glaskugel. Woher kommt dieses Bedürfnis, wissen zu wollen, was kommt? Wahrscheinlich daher, dass es einen nicht unvorbereitet trifft, kalt erwischt; dass einen ein Unglück nicht herausreißt aus dem Feststimmung. Wäre damit etwas gewonnen? Diese Orakel und Horoskope dienten früher meist dazu, dass man herausbekommen wollte, ob jetzt ein günstiger Moment ist, zum Beispiel in den Krieg zu ziehen oder zu heiraten. Natürlich wüssten alle, die ihr Geld anlegen wollen, gerne, ob der Kurs dieser Aktie steigen wird, ob jetzt ein günstiger Augenblick ist. In der Biel heißt es immer wieder: jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils. Griechisch: der kairos, der passende Moment. Also für Zukunftsleserei gibt es leider keine Gebrauchsanweisung in der Bibel.

Aber was der Apostel Paulus hier schreibt, ist für mich das stärkste Medikament gegen die Angst, das ich kenne. Es beginnt schon stark und kräftig: Ich bin gewiss. Gewissheit, keine Sicherheit. Das ist ein kleiner, aber bedeutender Unterschied. Sicherheit gibt es nicht. Das mussten wir vielleicht wieder lernen in den letzten Jahren seit dem 11. September. Zu diesem denkwürdigen Termin kam ein weiterer: der 13. November. Sicherheiten sind weggebrochen, auch finanzielle. Auch wenn sogar junge Leute singen wie die Gruppe Silbermond „Gib mir ein bisschen Sicherheit“ – welche jungen Leute hätten vor 50 Jahren oder vor 40 gesungen: gib mir Sicherheit? Wir hätten sie verlacht. Auch wenn selbst Silbermond sich nach Sicherheit sehnt, dann ist das nur ein Zeichen, wie vermeintliche Sicherheiten weggebrochen sind. Mit so viel Unsicherheit kann am besten leben, wer Gewissheit besitzt.

Das stärkste Heilmittel gegen die Angst sind für mich diese berühmten Sätze des Paulus. Sie gehören für mich zu den schönsten und wichtigsten der ganzen Bibel. Und sie passen eben nicht nur zu einer Beerdigung, weil auch der Tod darin vorkommt, sondern genauso zu einer Taufe oder eben zu einem Jahreswechsel, an dem sie jedes Jahr als Epistel gelesen werden: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder himmlische noch irdische Mächte, weder menschliche noch Naturgewalt – Ich bin gewiss, dass weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, weder Himmlisches, Irdisches noch Teuflisches noch irgendetwas anderes auf der Welt – und scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus Gestalt angenommen hat.

Es ist ja klar, dass wir diese Gewissheit nicht besitzen, nicht immer und nie so voll, dass sie alle Angst und Sorge hinwegfegt wie der Besen den Dreck oder der Staubsauger den Staub. Oder wie die Böller heute Nacht die bösen Geister vertreiben sollen. Da genügt laut sein, Krawall und einen auf stark machen nicht. An die bösen Geister glaubt wohl fast keiner mehr, aber umso lauter und mit umso mehr Krach und Feuerwerk müssen sie vertrieben werden. Freilich kann man das Feuerwerk auch als Ausdruck von Lebensfreude verstehen. Wenn sich die bunten Lichter in den Himmel ausbreiten wie Sterne, die steigen und fallen; wenn aus Füllhörnern schier unerschöpflich Funken hervorquellen. Ein Glanz, ein Leuchten, ein Zauber für einen Moment. Da muss man nicht an all das Bedrohliche denken, was kommen mag oder was irgendwo im Dunkeln lauert (Gut, wenn man an die nötigen Sicherheitsvorkehrungen denkt. Die Chirurgen haben diese Nacht zu viel zu tun mit abgerissenen Fingern und verstümmelten Händen) Ja, diese Gewissheit des Glaubens, dass nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die könnte leuchten wie ein Feuerwerk mitten in der Nacht. Überstrahlt nicht so ein Satz alles Dunkel. Es gehört Mut und Kraft dazu, sich so hinzustellen, so unverzagt, so überzeugt – nicht von sich selbst, sondern von dem, was er glaubt und verkündigen will, wovon er andere überzeugen will. Das ist wirklich ein Leuchtfeuer. Und nicht eines, das so schnell wieder vorbei ist (und noch so viel CO2 hinterlässt wie der ganze Verkehr in zwei Monaten). Dieses Leuchtfeuer steht Tag und Nacht.

Man spricht ja öfter von Leuchtturmprojekten. Die sollen sich herausheben wie der Leuchtturm und zugleich anderen die Richtung zeigen, wo es lang geht. Für mich ist das die Leuchtschrift in dieser Silvesternacht. Ich scheue mich nicht, die Worte mit der Leuchtreklame zu vergleichen, die besonders in Großstädten und an Hochhäusern aufleuchtet. Werbung für unseren Gott und den Glauben an ihn. Diese Werbung verspricht nicht Sicherheit, verspricht nicht Erfolg, verspricht auch nicht Glück wie der Schornsteinfeger oder das vierblätterige Kleeblatt – Glück schon, aber eine besondere Art das Glücks; Glück wie es Liebende kennen: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, aber schon gar nichts. Amen. .     



Autor: Dekan Hans Peetz