Erneuerung

Römer 12,1-8


Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich's gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat. Denn wie wir an "einem" Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied, und haben verschiedene Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Ist jemand prophetische Rede gegeben, so übe er sie dem Glauben gemäß. Ist jemand ein Amt gegeben, so diene er. Ist jemand Lehre gegeben, so lehre er. Ist jemand Ermahnung gegeben, so ermahne er. Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn. Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er's gern.

Liebe Gemeinde,

am 10. Januar kann man noch ein gutes neues Jahr wünschen. Aber nicht mehr lange, denn bald ist das neue Jahr  auch schon wieder angebraucht und zeigt die ersten Gebrauchsspuren. Das ärgert einen bei einem neuen Auto besonders, wenn die ersten Kratzer den glänzenden Lack verschandeln oder gar eine Delle das Prunkstück verunstaltet. Später fallen die Kratzer und andere Lackschäden gar nicht mehr so auf. Über die ersten Schäden in einer Beziehung, einer Liebe hieß es einmal in einem Lied „The first cut ist he deepest“, der erste Einschnitt ist der tiefste und tut besonders weh. Das Neue verliert seinen Neuigkeitswert oft ziemlich schnell. Deswegen muss immer wieder etwas Neues her.

„Erneuerung“ ist für mich das Zentralwort unseres Predigttextes. Wenn es um uns selbst geht; darum, dass wir unseren Sinn, unser Denken und Wollen erneuern sollen, dann ist klar, dass das nicht nach der Devise gehen kann: Tausche alt gegen neu, so wie ich meine alte Schlagbohrmaschine in Zahlung geben kann, um eine neue, bessere zu bekommen – natürlich gegen Aufpreis. Sprichwörtlich ist das geworden, dass ich nicht schnell mal ein anderer werden kann: Ich kann eben nicht aus meiner Haut heraus. Auch wenn ich manchmal aus der Haut fahren möchte. Es ist das alte Lied, das in der Regel all die guten Vorsätze am Jahresanfang oder sonst nach einer Zäsur wie einem Urlaub oder einer Krankheit, schnell wieder übertönt.

Erneuerung muss da schon eine andere Form annehmen als die des Austausches, dass man, wie es heutzutage üblich ist, statt zu reparieren, einfach ein paar Ersatzteile, „Komponenten“ oder gleich das ganze Gerät austauscht. Wir sind zum Glück nicht austauschbar als Menschen. Ersatz gibt es vielleicht auf der Arbeitsstelle oder in der Fußballmannschaft schnell, aber nicht bei Gott. Das gab es nur einmal, dass Gott seine missratene Menschheit auslöschte, sozusagen auf den Resetknopf drückte und einen Neuanfang startete mit ein paar ausgesuchten unverdorbenen Menschen, nämlich Noah und seiner Familie. Nie wieder, schwor sich Gott und uns nach der Sintflut. Nie wieder will ich diesen Weg der Erneuerung gehen. Später haben sich das nur Idealisten oder Schurken wie bei James Bond ausgedacht, mit reinen Exemplaren, besonders schönen oder guten irgendwo eine schöne neue Welt aufzubauen. Gott geht mit seiner, der real existierenden Welt und seinen Menschen einen anderen Weg. Das zeigt schon die Taufe, bei der es heißt: Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein. Für mich, sagt Gott, bist du unersetzbar und einzigartig.

Aber trotzdem ist Erneuerung nötig. Martin Luther drückt es mit dem unfreundlich klingenden Wort „Buße“ aus, der täglichen Buße und Umkehr. Und weil es ihm so wichtig ist, setzt er es an den Beginn seiner 95 Thesen. Erneuerung klingt freundlicher, positiver, aber bedeutet das gleiche. Bei Buße denkt man vor allem an das Schlechte; an das, was anders werden muss. In der Insidersprache der Frommen sagt man: der alte Adam muss täglich ersäuft werden – aber der Saukerl kann schwimmen. Also ein aussichtsloses Unterfangen! Und jeder, der schon etwas länger mit sich selber unterwegs ist, weiß ja, wie zäh das ist; nicht nur, wenn man das Rauchen aufgeben will oder überflüssige Pfunde abtrainieren oder anderswie wegzukriegen. Problemzonen gibt es nicht nur im Bereich von Bauch und Po. Jeder hat im Leben seine Problemzonen, also die Punkte, wo er immer wieder drauf stößt, so wie wir als Kinder ständig aufgeschundene Knie hatten. Mit der Zeit weiß man, wo man verletzlich und anfällig ist, wo man immer wieder zu kämpfen hat. Man kann eben nicht aus seiner Haut heraus.

Aber die Haut erneuert sich ja auch, selbst wenn wir es nicht merken. Im Laufe von sieben Jahren ist unsere Haut runderneuert. Der Aufruf in unserem Predigttext, unsere Sinne zu erneuern, macht Mut. Es ist tatsächlich möglich. Ist das nicht eine frohe Botschaft inmitten aller Ermahnung: wir können neu werden, jeden Tag. Das ist ja die Chance, die in unseren wiederkehrenden Zeitläufen liegt. Ein neuer Morgen bietet die Chance, es anders zu machen als gestern. „Das war gestern“, heißt doch: das ist weit weg. Ich muss es heute nicht noch einmal genauso machen. Wir stehen nicht unter Wiederholungszwang, wir müssen nicht dieselben Fehler ständig wiederholen. Wie schön kann dieser Satz klingen (und nicht nur sehnsuchtsvoll melancholisch): Das war gestern, heute ist ein anderer, ein neuer Tag. Auch der Jahreswechsel bietet diese Chance. Es ist ein neues Jahr und niemand ist dazu verurteilt, genauso weiterzumachen, wie er 2015 aufgehört hat. Aber der Grund, dass Erneuerung möglich ist, liegt nicht allein darin, dass man zum Jahresende etwas Ruhe und Urlaub hatte, so dass man Abstand bekam von dem, was war, und dass man neue Kräfte schöpfen könnte – so wie man in der Nacht Abstand bekommt vom Gestrigen, ja vielleicht im Traum sogar manches schon verarbeitet hat, und hoffentlich durch einen guten Schlaf neue Kräfte bekommen hat. Denn Kraft braucht man für einen Neuanfang. Manchmal muss man den Wagen kräftig herauslenken aus den eingefahrenen Spurrillen. Neuanfang in einem Streit, im herunterziehenden ewigen Hin und Her kostet Kraft. Auch wenn man sagt: Ich bin es müde. Aus der Müdigkeit kommt noch keine Erneuerung. Auch wenn der Rhythmus von Tag und Nacht, von Frühling, Sommer, Herbst und Winter, von Arbeit und Erholung natürliche Quellen der Erneuerung sind – die eigentliche Quelle ist, wie es im Predigttext heißt, Gottes Barmherzigkeit. Oder im Morgenlied von Zwick (kann man sich gut merken: zwick mich, dass ich aufwache): All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu. Erneuerung ist möglich, weil er sagt: Siehe, ich mache alles neu.

Erneuerung ist freilich kein Selbstzweck. Das Neue ist ja nicht von vorne herein das Bessere. Das war der Irrglaube der Moderne vor allem in der Nachkriegszeit. Da musste die Werbung nur rufen: neu, neu, neu, und schon kauften es die Leute. In der technischen Entwicklung ist ja das Neue oft das Bessere, aber nicht weil es neu ist, sondern weil es mehr kann. In unserem Predigttext heißt es: ändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. Die Sinne schärfen, so wie man ein Messer oder eine Schere schärft, um genauer schneiden, genauer unterscheiden zu können. Erneuerung der Sinne ist das ganz einfach: genauer hinschauen, genauer hinhören, vielleicht auch riechen, wo es stinkt; schmecken und tasten.

In den Auseinandersetzungen, in denen Paulus stand, bezog sich dieser Prüfauftrag vor allem auf die Frage: Was ist echt, tragfähig auch in Krisen, vertrauenswürdig, worauf und auf wen kann man sich verlassen? Und was ist bloßer Schein, Schaumschlägerei, Vorgaukeln von Illusionen? Deshalb fordert er seine Leser und Leserinnen (auch die, selbst wenn er nur „Brüder“ anredet) – er fordert sie auf, nicht mehr von sich zu halten, als es sich gebührt. Es muss da einige Blender in Glaubensdingen gegeben haben, die den Leuten den Kopf verdrehten: Schaut, wie toll wir sind und was wir können! Wunder, für uns eine Kleinigkeit. Oder Angeber, würde man heute sagen, Großmäuler. Vielleicht predigten sie: wir sind schon auferstanden, wir sind schon neu. Wer glaubt, hat keine Angst, wird nicht krank, fürchtet keinen Tod. Paulus warnt vor Selbstüberschätzung. Haltet euch nicht selbst für klug, schreibt er kurz vorher. Das heißt vor allem: haltet euch nicht für klüger als die anderen, als hättet ihr die Weisheit mit Löffeln gegessen; und haltet die anderen nicht für dumm. Übrigens, und das ist wichtig, fordert Paulus auch nicht auf, überhaupt nichts von sich selbst zu halten; sich selbst also als ein Nichts oder den letzten Dreck anzusehen. Maßvoll soll die Selbsteinschätzung ausfallen. Bescheidenheit hat nichts mit Selbstverachtung oder Minderwertigkeitskomplexen zu tun. Maßvolle Selbsteinschätzung, dass man weiß, was man kann und was nicht. Jeder soll das tun in der Gemeinde, was er kann. Und er tue es zum Nutzen aller, zum Nutzen der Gemeinschaft.

Klingt das nicht doch wieder nach der alten Haut, aus der man nicht heraus kann? Ziemlich konservativ: „Schuster bleib bei deinem Leisten!“ Erneuerung geschieht jedenfalls nicht durch Parolen; dadurch, dass man alle Naselang verkündet, eine neue Zeit sei angebrochen. Und dass jetzt alles anders wird. Erneuerung geschieht in den Kleinigkeiten. Erneuerung der Sinne könnte heißen: noch einmal hinschauen, noch einmal hinhören. Wie oft trügt der erste schnelle Eindruck. Der Blick huscht darüber weg und übersieht Wesentliches. Beim zweiten Hinschauen entdeckt man plötzlich Neues. Zum Beispiel, dass der Schaden doch nicht so hoch ist. Oder auch den Rost in den Ecken der glänzenden Oberfläche. Erneuerung in den kleinen Dingen könnte heißen: noch einmal von vorne anfangen. So wie uns Studenten ein alter Pfarrer erklärt hat, was für ihn  Buße und Umkehr bedeuten: wenn ich beim Zuknöpfen meines Talars merke, dass ich mich verknöpft habe, dann muss ich ihn halt noch einmal aufknöpfen. Schneller geht das, wenn ich es frühzeitig merke. Manchmal denke ich, ich habe keine Zeit, es muss weitergehen. Nicht noch einmal zurück, nicht noch einmal von vorne. Aber letztlich geht es dann doch am schnellsten und wird kein Gewurstel. Paulus gebraucht das schöne Wort „sorgfältig“. Er meint, wer ein Leitungsamt oder eine Führungsposition hat, muss besonders sorgfältig sein. 

Ändert euch, heißt es heute im Predigttext. Und nach Luthers 95 Thesen gilt das für jeden Tag des Jahres. Das kann wohl nicht heißen, dass ich von heute auf morgen ein anderer werden könnte und sollte. Abgesehen davon, dass es ja auch ein paar Dinge an jedem gibt, wo man sagen möchte: bleib so, wie du bist. Es ist ja auch eine Aufgabe, das Gute nicht zu verlieren, das einem geschenkt ist. Abgesehen von den positiven Gaben, die Paulus ja gleich im Anschluss an seinen Erneuerungsappell bringt, meistens funktioniert das nicht, von heute auf morgen ein anderer oder eine andere zu werden, selbst wenn man das wollte. Aber in dem jetzigen Moment mit all seinen Kleinigkeiten liegt die Chance, es dieses Mal anders zu machen – wenn es denn anders gemacht werden muss. Denn dieser Moment, dieses Mal ist neu. Die gute Nachricht in der Bußpredigt, in allen Umkehraufforderungen lautet: Du bist frei vom ständigen Wiederholungszwang. Vielleicht nicht ganz frei, sicherlich immer noch gebunden an Vergangenes, Gewohntes, an deine Grenzen. Aber all Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad – und nicht nur am Morgen. Amen



Autor: Dekan Hans Peetz