Mehr als ein guter Freund

Hebräer 4, 14-16


Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

„Ich möcht`, dass einer mit mir geht, der`s Leben kennt, der mich versteht“; singen Heranwachsende in der Schule und Jugendliche im Konfirmandenunterricht. Das ist in etwa eine modernere Form des „Jesu geh voran auf der Lebensbahn“ oder von „So nimm denn meine Hände“. Es ist der Wunsch, nicht allein zu sein; jemanden an der Seite zu wissen, der da ist; mit dem man reden kann, sein Herz ausschütten, nach Rat fragen; der eventuell helfen kann. Und der eben nicht teilnahmslos dasitzt wie ein Holzklotz oder wie eine rätselhafte Sphinx, sondern mitfühlt, gar mitleidet; jedenfalls mich versteht. Am meisten trauen wir das Menschen zu, die so etwas auch schon erlebt haben; denen das zumindest nicht fremd ist; jemand, der weiß, wovon ich rede. Jemand, der nie Geldsorgen hatte in seinem Leben oder sich niemals einschränken musste, weiß wohl nicht, wie das ist, wenn das Konto dauernd im Minus ist und man schon am Zwanzigsten des Monats nicht mehr weiß, mit was man das Nötigste einkaufen soll. Vielleicht unterstellt man manchmal zu Unrecht: Du hast doch keine Ahnung; niemand kann nachfühlen, wie es mir geht. Auch wenn jedes Leid, jeder Schmerz individuell ist, jedes Erleben so persönlich, dass wirklich niemand anders  wissen kann, wie sich das genau anfühlt, oft ist dieses „Niemand versteht mich“ nur der Wunsch, dass sich jemand kümmert und zuhört. Wenn nicht das trotzige Beharren sich darin ausspricht, nicht getröstet werden zu wollen, weil mein Schmerz so einzigartig und unvergleichlich ist – wohl auch eine Form verzweifelten Größenwahns. Denn es gibt viele andere, die zumindest genauso Schweres erlebt haben.

Das Lied „Ich möchte, dass einer mit mir geht“ endet ganz vorsichtig; so wie man einem Trauernden nicht mit großen Reden kommen kann oder vollmundigen Bekenntnissen; man sagt auch: nicht mit dem Holzhammer. Manchmal können Bibelworte so verstanden oder missbraucht werden. „Der Herr hat´s gegeben, der Herr hat´s genommen, gelobt sei der Name des Herrn.“ Ganz vorsichtig geht das Lied weiter: Es heißt, dass einer mit uns geht, der´s Leben kennt, der mich versteht, mich zu allen Zeiten kann geleiten.“ Erst am Ende, sozusagen als Auflösung des Rätsels, wird der Name genannt: „Sie nennen ihn den Herren Christ, der durch den Tod gegangen ist; er will durch Leid und Freuden mich geleiten. Es heißt, dass er auch mit mir geht.

Man könnte an einen Freund denken, einen Kumpel, der mit einem durch dDick und Dünn geht. mit dem man, wie es heißt, auch Pferde stehlen könnte – was man lieber nicht machen sollte. Es gibt andere Formen des Freundschaftsbeweises. Oder wie es bei den Comedian Harmonists hieß: Ein Freund, ein guter Freund, ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Einer, der einem ganz nahe ist. So nahe gekommen beschreibt auch unser Predigttext den Herrn Jesus Christ, mit doppelter Verneinung, also ausdrücklicher Betonung: Er ist keiner, „der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit; keiner, der  unsere Leiden nicht kennen würde. Und: er wurde versucht in allem, gleich wie wir. Er hat das Gleiche durchgemacht, auch wenn sein Leiden und Sterben sein eigenes, sein Besonderes war, so wie jedes Leiden und Sterben, das eigene, unverwechselbare ist. Und er kennt die Versuchungen, die uns Menschen ins Ohr geflüstert werden oder die aus dem Innern aufkeimen. Er kennt sie nicht nur theoretisch, sondern hat sie am eigenen Leib erfahren. Der kann mitreden.

Natürlich wäre es für manche vielleicht reizvoll, diesen Versuchungen genauer nachzugehen. Versuchung wird bei uns meistens erotisch oder sexuell gebraucht (Heute ist Valentinstag). Oder man denkt ans Essen, zum Beispiel. Aber auch bei der „zartesten Versuchung, seit es Schokolade gibt“ schwingt dieser erotische Unterton mit. Schon lange wird in Büchern, Filmen und im Musical „Jesus Christ Superstar“ darüber spekuliert, ob Jesus etwas mit dieser Maria Magdalena hatte, die ihm die Füße küsst und mit ihren Haaren trocknet. Die Versuchungen, die das heutige Evangelium von Jesus erzählt, sind andere: zum Beispiel Versuchung des Materiellen, des Besitzes; haben zu wollen; Brot statt nur Worte; oder die Versuchung, es den anderen so richtig zu zeigen, was für ein toller Kerl man ist; die Versuchung, sich zur Schau zu stellen, bewundert zu werden, und sei es durch einen Sprung von der Tempelmauer; es sich und den anderen zu beweisen. Und als drittes aus der Versuchungsgeschichte Jesu: allmächtig zu sein, wie Gott; über alle zu herrschen, allen überlegen zu sein, oder auch nur zu leben wie Gott in Frankreich. Sicherlich sind das nicht alle Versuchungen, die es gibt. Uns würden wohl noch viele einfallen. Aber darum geht es nicht, in unseren Versuchungen zu wühlen oder zu schwelgen, die sich darin zusammenfassen ließen, dass wir schwach sind und manchmal schwach werden, auch und gerade dann, wenn es um Macht und Stärke geht.

In unserem Predigttext heißt Jesus aber nicht Freund oder gar Kumpel, sondern Hohepriester. Der Hohepriester brachte im Tempel das Opfer dar. Er konnte Gott versöhnen. Er durfte dorthin, wo dem gewöhnlichen Volk, ob arm oder reich, der Zutritt verwehrt blieb: ins Allerheiligste; dorthin, wo Gottes Gegenwart am dichtesten war; ein Raum, der sozusagen göttlich aufgeladen war; wo man nicht nur die Schuhe ausziehen musste wie Mose am Dornbusch, sondern wo ein normaler Mensch hätte vergehen müssen. Nur der Hohepriester darf eintreten in diesen Raum, wo Gott ist. Nur er darf die Zeremonien verrichten, mit denen ein Gott gnädig gestimmt wird. Er bringt die Bitten der Menschen vor Gott und er teilt den Segen aus, der von Gott kommt. Er ist der Vermittler, der Brückenbauer zwischen Himmel und Erde, lateinisch: pontifex; so wie der Papst heute noch manchmal genannt wird: pontifex maximus.

Wir haben nur einen, einen einzigen Hohepriester, schärft der Hebräerbrief ein: Jesus Christus. Deswegen brauchen wir keine menschlichen Vermittler. Jesus Christus ist ein für allemal gestorben als das Opfer. Deswegen brauchen wir keine Opfer mehr, Gott gnädig zu stimmen. Wir sind versöhnt mit Gott. Und – das streicht unser Abschnitt aus dem Hebräerbrief heraus: Wir haben Zutritt zum Allerheiligsten – alle. Alle dürfen den Altarraum betreten (auch die, die nur die Treppe zur Markgrafengruft hinunter wollen und sich manchmal scheuen, dem Altar so nahe zu kommen). Nutzt diesen Zugang, fordert der Hebräerbrief auf, tretet herzu mit Zuversicht, ohne Angst und Scheu. Auch das muss man heute wiederholen, da es zwar keinen Tempel in Jerusalem und kein Allerheiligstes mehr gibt, aber die meisten es doch lieber den Priestern und Pfarrern überlassen, die Sphäre des Heiligen zu betreten, und sich auf deren Vermittlerdienste verlassen. Dass er, Jesus Christus, der einzige und wirkliche Hohepriester ist, begründet das Priestertum aller Getauften. Man könnte es als radikale Demokratisierung bezeichnen, die ein Ende macht mit religiösen, geistlichen Eliten mit Sonderrechten. Dass es manchmal ein Akt der Barmherzigkeit sein kann, für andere einzutreten, die selbst nicht beten oder glauben können, ist eine andere Frage.

Jesus Christus, der Hohepriester, ist jedenfalls mehr als ein Freund oder Kumpel, der mich versteht, weil menschliches Leid erlitten hat und menschlichen Versuchungen ausgesetzt war. Es heißt in unserem Predigttext, dass er die Himmel durchschritten hätte. Er ist also nicht nur auf dieser Erde zu Hause, ist einer von uns geworden; wahrer Mensch, wie es das Glaubensbekenntnis ausdrückt (das, das wir selten sprechen), sondern auch wahrer Gott. Er wurde versucht in allem wie wir, aber ohne Sünde. Er sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein. Er ist nicht nur ein Vermittler, ein Brückenbauer, er ist der Sohn.

Und, liebe Gemeinde, das ist gut so, dass er mehr ist als ein Freund und Kumpel. Einen Freund, eine Freundin zur Seite zu haben; einen oder eine, der oder die das Leben kennt und mich versteht, das tut gut; aber manchmal reicht es eben nicht aus. Es erleichtert, dass ich nicht allein bin mit meinem Schicksal, dass es andere gibt, die die gleichen Probleme haben, denen es genauso schlecht oder vielleicht noch viel schlechter geht. Aber reicht das? Ist das schon Hilfe genug? Oder könnte es sein, dass sich da zwei Menschen aneinander klammern und gemeinsam untergehen? Von Jesus heißt es nicht nur, dass ihm nichts Menschliches fremd ist, weder die Leiden, noch die Versuchungen, all die Passionen, die in dem Wort stecken, das zugleich Leidenschaft bedeutet. Nicht nur auf die Erde und ihre Niederungen ist er herabgekommen, nicht nur niedergefahren zur Hölle, in all die menschlichen Höllen, sondern aufgefahren in den Himmel – oder wie es im Predigttext heißt: Er hat die Himmel durchschritten. Eben nicht nur wahrer Mensch, sondern zugleich wahrer Gott. Versucht wie wir, aber ohne Sünde.

Der kann uns wirklich eine Brücke bauen zum Himmel. Bei einem Wegbegleiter, bei einem, der mit mir geht, ist es gut, wenn der etwas weiter sehen kann als ich selbst; wenn der den Kopf oben hat, wenn ich ihn senke; der er das Ziel kennt, wenn ich es aus den Augen verliere. Deswegen ist es gut, nicht nur Freunde und Kumpel an meiner Seite zu haben, die oft auch nicht weiter sehen – Jesus gebraucht einmal den Vergleich vom blinden Blindenführer -, nicht nur Menschen, die sich ebenso vortasten und den Weg suchen wie ich, sondern ihn, der den Himmel durchschritten hat. Der Wolken, Luft und Winden gibt Weg Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.

Unser Predigttext schließt mit einer Aufforderung, die auch mit dem Gehen zu tun hat: Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden, wenn wir Hilfe nötig haben. Tretet selbst hinzu zum Thron Gottes, wir brauchen keine Vermittler mehr, wir müssen niemanden bestechen, wie es in vielen Ländern üblich ist, um vorgelassen zu werden; wir müssen keine Anträge ausfüllen in 10facher Ausfertigung, um einen Termin zu bekommen, die Tür ist offen, wir haben jederzeit Zugang zum Herzen Gottes. Tretet hinzu mit Zuversicht, nicht ängstlich, kein Kniefall ist nötig, nicht tausend Verbeugungen und Bezeugungen unserer Unwürdigkeit, wie es Götter sonst verlangen, sondern mit Zuversicht, mutig und zuversichtlich zugleich, dass er die Bitte nicht ausschlagen kann. Tretet hinzu zum Thron der Gnade. Den Gnadenthron sehen wird auf dem Grabmal für Pankratius Bidermann: Gott der Vater hält uns seinen Sohn Jesus entgegen, den Gekreuzigten. Seht, den schenke ich euch und mit ihm alle Gnade und Barmherzigkeit. Tretet hinzu, damit ihr Gnade und Hilfe empfangt, wenn ihr Hilfe braucht. Wenn ihr Hilfe braucht, dann es gut, nicht allein zu sein, sondern Freunde und Kumpel zu haben. Mindestens genauso gut ist, wenn ich weiß: Ich kann mit an Jesus Christus wenden, der kennt nicht nur die Not auf Erden, sondern auch den Himmel mit seinen Kräften. Amen



Autor: Dekan Hans Peetz