Gott kommt herunter

Hebräer 5, 7-9


Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.

 

Liebe Gemeinde,

„Jesus hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte.“ Laute Schreie, Tränen – ich denke vor allem an den Verzweiflungsschrei am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Wenn heute auch die Musik im Mittelpunkt des Gottesdienstes stehen soll, weil wir Herrn Suhó als Kirchenmusiker im Praktikum einführen und der Chor mehrere Stücke von Max Reger singt, dann passt das mit dem Schreien auf den ersten Blick gar nicht. Verzweiflungsschreie klingen schrill, gehen durch Mark und Bein. Bei den meisten Chorstücken ist Schreien ziemlich unangebracht. Jesus schreit am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das sind Worte, wie sie im Buch der Psalmen stehen, im 22. Psalm, der mit dem klagenden „Warum“ anfängt. Und weiter: „Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.“ Gott, der helfen kann, von dem es in unserem Predigttext heißt, dass er vom Tod erretten kann, scheint in weiter Ferne. Es heißt: „der du thronst über den Lobgesängen Israels“.

Womit wir wieder bei der Musik wären: „der du thronst über den Lobgesängen Israels“. Fern im Himmel, über einem Klangteppich aus Hymnen und Lobgesängen, wo die Posaunen und Trompeten in ihrem Goldglanz blinken und Ihre feierlichen Fanfaren besonders geeignet sind, die Herrlichkeit des himmlischen Königs zu verkünden: „Jauchzet, frohlocket“. Außerhalb der Kirchenmusik hat Ludwig van Beethoven das in seiner neunten Symphonie und der Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ besonders stark zum Ausdruck gebracht: „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“. Die erste Strophe endet: „Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“ Von dort, ganz aus der Ferne, aus dem himmlischen Elysium springt der Funke der Freude über. Die Musik besingt es nicht nur, sondern bringt es zum Klingen, lässt selbst die Funken sprühen. Der Europarat hat Beethovens himmlischen Hymnus zur Europahymne erklärt.  Als solche erklingt sie bei Staatsakten und Jubelfeiern, auch wenn Europa zurzeit weniger zum Jubeln als zum Heulen Anlass gibt und es nicht heißt: „seid umschlungen Millionen“, sondern: „bleibt draußen“.

„Du thronst über den Lobgesängen Israels“, heißt es im 22. Psalm, „ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk.“ Der Verzweiflungsschrei, das „Mein Gott, mein Gott, warum hast mich verlassen“ aber geht über in Bitten und Flehen: „Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe.“ Oder wie es so oft in den Psalmen heißt: Schau doch herab von deiner himmlischen Wohnung, neige deine Ohren und höre mich. Wenn Gott, der über den Lobgesängen seines Volkes thront und sich dort feiern lässt, wenn der herabschaut, seine Ohren neigt und den Schrei hört, dann wird er helfen. Immer wieder haben Menschen diese Erfahrung gemacht, die sich musikalisch dann so ausdrückt: „du hast meine Klage verwandelt in einen Reigen“. Und dann passiert es auch, dass der Götterfunke, die Freude, auch auf den überspringt, der vorher im Dreck saß.

Ebenso verzweifelt zunächst klingt ein anderes Lied aus dem Alten Testament. Wir singen es meistens in der Adventszeit: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“, umgedichtet: O Heiland, reiß die Himmel auf. Auch hier, bei Jesaja heißt es vorher: „So schau nun vom Himmel herab und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung“. Aber das reicht dem nicht, der klagend schreit: „Warum lässt du uns abirren, Herr von deinen Wegen? Warum greifst du nicht ein, wenn dein Name in den Schmutz getreten wird? Warum spüren wir nichts von deiner Macht?“ Aber eben nicht so fromm und gläubig wie im Lied „So nimm denn meine Hände“, wo es heißt: „wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht“, sondern hier verzweifelnd fordernd: „Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab. Durchbrich diese bleierne Wand, hinter der du dich verbirgst, an der unsere Gebete abzuprallen scheinen oder die sie zu verschlucken scheint. Zerreiß den Himmel und komm herunter zu uns“.

Das ist der zweite Schritt in der Abwärtsbewegung Gottes, dass er nicht nur herunterschaut von seiner himmlischen Anhöhe, sondern selbst herabfährt. Allerdings klingt der Wunsch eher so, wie wir es in den Filmen von Batman oder Superman kennen, die  sich ja auch vom Himmel herabstürzen und die Frau, die aus dem Fenster fällt, kurz vor dem Aufschlag auffangen und behutsam auf der Erde absetzen oder den Schulbus mit den Kindern drin an der Kante zum Abgrund gerade noch aufhalten, ja sogar die Zeit zurückdrehen, damit die Bombe nicht das Erdbeben auslöst und den Staudamm brechen lässt. Der Retter ist zugleich der Rächer und räumt mit den Bösen auf. Wie ein Feuer soll Gott vom Himmel kommen und es nicht nur den Ungläubigen zeigen, sondern auch den Zweifelnden im eigenen Volk, die an seiner Macht, ja an seiner Existenz irregeworden sind. Herab kommen soll Gott und seine Macht demonstrieren.

Das Adventslied folgt zunächst dem Wunsch nach Machtdemonstration: „reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für“. Aber in der zweiten Strophe wechselt es von der gewalttätigen Fantasie zu dem sanften Bild des Taus und eines fruchtbaren Regens, der die Wüste zum Blühen bringt. Aus dem Ruf nach dem Superhelden wird der nach dem Trost der ganzen Welt. Schließlich ist Gott tatsächlich herab gekommen, aber nicht wie ein himmlischer Superman oder einer dieser Erlöser aus dem Reich der Fantasie, aus dem Reich menschlicher Allmachtsfantasien, sondern als wehrloses Kind in einem Futtertrog.

Das ist der dritte Schritt der Abwärtsbewegung Gottes, seiner Deszendenz, die besonders der Hebräerbrief mit sehr menschlichen Worten beschreibt: Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dargebracht. Das besingen unsere Passionslieder. Das bekannteste ist wohl „O Haupt voll Blut und Wunden“, das wir noch nicht heute, sondern vor allem am Karfreitag singen. Die Worte des Liedes, die sich durch die Musik in die Seele einprägen, zeigen nur das Gesicht, das Haupt des Gekreuzigten. Paul Gerhardt muss gar nicht alles aufzählen, was Jesus erleiden muss (so wie es im nächsten Lied geschieht: „Lästerreden, Spott und Hohn, Speichel, Schläge, Strick und Banden…“), er lässt uns nur in das Gesicht schauen: Die Farbe deiner Wangen, der toten Lippen Pracht ist hin und ganz vergangen; des blassen Todes Macht hat alles hingenommen, hat alles hingerafft, und daher bist du kommen von deiner Leibes Kraft.“ Von wegen starker Held.

Das Wort „heruntergekommen“ klingt ja in unseren Ohren zweifelhaft. „Heruntergekommen“ ist ja etwas anderes als „herabgekommen“. Herabkommen kann ja immer noch herablassend klingen. Wenn sich Mächtige herabneigen, wenn sie sich mit denen unter ihnen befassen oder abgeben, dann hat das oft immer noch etwas Herablassendes. Die Menschen spüren das. Denn wer sich herablässt, begibt sich nicht wirklich auf die gleiche Ebene mit denen, denen er helfen will oder die er im schlimmsten Fall nur als Dekoration für sein gutes Image braucht. Jesus Christus, der Sohn Gottes, hat nichts Herablassendes an sich. Eher könnte man schon – etwas provokativ – von dem „heruntergekommen Gott“ sprechen. Er beugt sich nicht von einer höheren Warte hinunter zu denen da ganz drunten, sondern stellt sich selbst auf die niedrigste Stufe. Unser Predigttext nennt das Gehorsam. Es heißt: „So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.“ Er musste den Gehorsam erst lernen. Wir könnten da an den Garten Gethsemane denken, wo er mit seinem Schicksal ringt und Blut und Tränen schwitzt. Zuerst weigert er sich: Lass diesen Kelch an mir vorüber gehen. Zuletzt willigt er ein: dein Wille geschehe. So sehr ist er Mensch, dass er zunächst ausweichen möchte, nicht noch tiefer hinein kommen ins Leiden, so wie wir das Leiden am liebsten vermeiden möchten. In allem versucht wie wir, haben wir vor ein paar Wochen gehört aus dem Hebräerbrief.

Hinunter in die tiefsten Tiefen. Auch die Musik versucht, diese darzustellen, zum Klingen zu bringen. Richard Wagner ließ sich vom Klavierbauer Eduard Steingräber das Glockenklavier für seine Oper Parsifal anfertigen, um die tiefstmöglichen Töne zu erzeugen mit mehr als zwei Meter langen Saiten. Jetzt wird die Gralsglocke erstmals wieder mit einem neuen Werk zum Klingen gebracht. Wagner hatte das Instrument im Parsifal eingesetzt, wo die Stimme aus der Höhe prophezeit: „durch Mitleid wissend, der reine Tor“ Auch da geht es um Erlösung durch Mitleid, durch Mitleiden.

„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“, heißt es im Lied vom zerrissenen Himmel. Er ist gekommen, heruntergekommen vom höchsten Saal, hinabgestiegen in das Reich des Todes. Das tröstet. Wie oft haben Menschen, die ganz unten waren, dadurch erfahren, dass sie nicht allein sind, nicht von Gott oder allen guten Geistern verlassen. Das Haupt voll But und Wunden wird „zum Trost in meinem Tod“. Gott ist eben nicht ferne, nicht weit weg, erhaben thronend über den Lobgesängen Israels oder über dem Sternenzelt, sondern ganz nah. Jesus Christus hat es selbst erlitten, er weiß, wovon er redet.

Aber nicht nur dann, wenn wir in solche Notsituationen kommen sollten oder mancher vielleicht gerade mitten drin ist, ganz unten, dient uns die Abwärtsbewegung Gottes zu Trost und Heil. Ich möchte es noch einmal mit einem Beispiel aus der Musik sagen. Die Musik braucht ein Fundament. Deswegen haben wir bei der Sanierung unserer Orgel ganz, ganz tiefe Töne angeschafft; keine Gralsglocke, sondern 32-Fuß-Register. Wie die Musik braucht unser Leben einen Unterbau. Die wenigsten Sänger können so tief hinunter singen, die Sängerinnen schon gar nicht. Aber das Fundament, der Unterbau ist da. Nicht jeder muss die tiefsten Tiefen der Verzweiflung erleiden, nicht jeder muss in die Lage kommen, in den Verzweiflungsschrei Jesu einzustimmen. Gut für uns, dass er da unten war. Auch wenn wir nicht so tief fallen müssen, das gibt Halt und das trägt, so wie die tiefen Töne die Musik tragen, auch wenn sie ganz hoch hinauf geht, manchmal sogar bis zu den Götterfunken.

Eine schöne Aufgabe, sich in den Dienst dieser Musik zu stellen, oder noch besser: mit der Musik in den Dienst dieses Gottes. Dafür wollen wir Gott bitten, dass er seinen Heiligen Geist herunter kommen lasse. „O Heilger Geist, kehr bei uns



Autor: Dekan Hans Peetz