Wunder, gesehen zu werden

Lukas 17,11-19


I. Eine Heilungsgeschichte

 

Liebe Gemeinde,

 

Das Wunder, gesehen zu werden, vergeht schnell und ist doch so entscheidend für das eigene Leben.

Zum heutigen AOK Gesundheitstag heute auf der Landesgartenschau möchte ich eine Geschichte von Gerhard Engelsberger erzählen:

Barbara M. wurde am 18. des vergangenen Monats geheilt aus der Klinik für Innere Medizin entlassen. Doch die bangen Minuten vor der Entlassung bleiben Barbara M. noch in Erinnerung: Bei der Abschlussvisite urteilen die Ärzte über den Gesundheitsstand. Jetzt heißt es: Nur ja keine überflüssigen Fragen stellen! Das Urteil ist schnell gefällt: „Sie können gehen.“ Dann geht alles sehr schnell: Bademantel und Necessaire sind hurtig gepackt, die Ärzte sind bereits bei den anderen. Der Betrieb geht weiter. Fast verloren, überflüssig steht Barbara M. an der Glastüre zur Frauenstation. 13 Wochen hat sie hier verbracht.

 

II. Wie kann ich fröhlich sein?

 

Angefangen hatte das – ja, eigentlich ganz undramatisch – unter der Dusche. Die harte Stelle an der Brust. Am nächsten Morgen rät der Frauenarzt: Ich würde Sie gerne ins Krankenhaus überweisen, die haben bessere Geräte, können mit Sicherheit ausschließen, dass es etwas Bösartiges ist. Von wegen ausschließen! Es war bösartig. Gut kein Krebs von der ganz schlimmen Sorte. Routineoperationen. Die Behandlung danach auch: Chemotherapie, Bestrahlungen, Gespräche. Dann kam das plötzliche Fieber. Jedenfalls ging alles nicht so routinemäßig – als ob es bei einem Krebspatienten jemals so etwas wie Routine geben könnte. Und doch sieht es immer so aus: Diese Ansammlung von Blättern, auf denen Zahlen und lateinische Begriffe, stehen. Du hast den Eindruck, du stehst gar nicht auf diesem Blatt. Wehrst dich, eine Nummer zu sein, eine >Brust< oder ein >Magen< oder eine >Prostata<. Wie es im Originalton aus dem Lautsprecher heißt: „Der Magen von 212 zum Ultraschall.“ Nein, ich bin keine Brust, kein Magen und kein Darm. Ich bin Barbara M., 44 Jahre alt, ein Mensch. Doch für andere bin ich offenbar nur die Fieberkurve, die am Ende meines Bettes hängt, oder eine Ansammlung von Blutwerten. Beim Namen muss der Arzt schon auf die Blätter schauen, bei der Krankheit nicht. Er weiß, dass ich >eine Brust< bin. Ich will ihm nicht verübeln, dass er in dem hektischen Betrieb meinen Namen nicht kennt.

Doch am Ende ihrer Überlegungen steht Barbara M. vor dem Portal des alten Krankenhauses. Sie ist geheilt entlassen.[i] Soweit die Geschichte von Barbara M..

 

Trotz der Einsicht der letzten Jahre, dass Ganzheitlichkeit so wichtig ist, stehen Ärzte, Seelsorger und Pflegekräfte unter dem Stress des Alltags, der oftmals dazu verleitet, über den Menschen als Ganzes hinwegzusehen. So bleiben auf der anderen Seite der Patienten oftmals Lob und Dankbarkeit für die Heilung aus.

 

Ganz ähnlich und doch anders verläuft eine Heilungsgeschichte, die der Evangelist Lukas im 17. Kapitel erzählt:

 

(11) Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog.

(12) Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne (13) und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!

(14) Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern!

Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.

(15) Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme (16) und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter.

(17) Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? (18) Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? (19) Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

 

Es sieht so aus, als ob es hier auch wieder nur um die zehn Aussätzigen geht, die 10 auf dem Gang nach Jerusalem, 10 Namenlose aus irgendeinem Bergdorf, dessen Name nicht einmal wert ist, erwähnt zu werden, die 10 mit der Lepra, die 10 eben mit dem Aussatz. Doch siehe da, einer kehrt zurück an den Ort des Grauens und der Krankheit, aber auch an den Ort der Heilung und pries Gott. Und siehe da, es war ein Samariter. Endlich erfahren wir ein wenig mehr als nur >eine Brust<, >eine Prostata<, >ein Aussatz<. Und doch verwirrt Jesu Frage. Er fragt: „Hat sich sonst keiner gefunden, (...) um Gott die Ehre zu geben?“ Das soll auch unsere Frage heute sein: Wie kann ich loben, dankbar und fröhlich sein?

 

III. Gehorsam der Neun

 

Gott die Ehre zu geben, kann man nicht erzwingen. Das Lob Gottes soll ja aus frohem und freiem Herzen kommen. Irgendetwas hat Barbara M. gefehlt. Sie freute sich nicht so richtig, obwohl sie doch wieder gesund war. Sie wurde wie ihr krankes Körperteil behandelt. Aber den ganzen Menschen mit Leib und Seele, den hat man offenbar nicht gesehen. Mit solcher Irritation im Herzen, wo Heilung und Beachtung auseinanderfallen, ist einem nicht nach Hymnen zu Mute.

So geht es auch manchem Gesunden, der zwar vieles hat, aber zu wenig Beachtung geschenkt bekommt. Hier fehlt dann auch die Fröhlichkeit. Beschäftigt hat mich der Gehorsam der 9 anderen Geheilten: Zeigt euch dem Priester! Hatte Jesus zu ihnen gesagt. Lasst euch rein sprechen, mit anderen Worten: alltagstauglich. Das ist es, was viele Kranke freilich wollen. Sie wollen wieder funktionieren, wie vor der Krankheit. Ob das auch gut für sie ist, ist eine andere Frage.

 

IV. Jesu Sicht der Menschen

 

Die Geschichte nimmt eine überraschende Wende: Einer von den 10 Geheilten ist ungehorsam und kehrt zu Jesus zurück. Er lobt, dankt, freut sich. Erst angesichts dieser Freude hat wohl auch Jesus gemerkt, es geht nicht darum, dass alles wieder so wird, wie es einmal war, sondern dass wir vor Gott und den Menschen fröhlich sein können. Jesu Ruf „Hat sich sonst keiner gefunden, (...) um Gott die Ehre zu geben“ soll daher für die Gemeinde damals wie für uns heute ein Umkehrruf sein. Er will uns zurück rufen von dem Weg der Angst, sich zeigen zu müssen, sich den anderen wieder beweisen zu müssen. Nach dem Motto: Seht her, ich bin gesund. Ich kann wieder arbeiten wie früher. Nein, wir werden zu einem Punkt gerufen, von dem man aus von Herzen froh sein und Gott loben kann. Es geht nicht darum, wieder an den alten Ort zu gehen, wo man wieder nur als Leistungsträger gesehen wird, der funktionieren muss, um dann wieder krank zu werden. Es geht um den Ort, wo ich als Mensch gesehen worden bin. Das ist der Ort des Wunders. In unserer biblischen Erzählung kamen die 10 Aussätzigen Jesus entgegen. Und was macht Jesus: Er sah sie, nicht nur den Aussatz, die Brust oder die Prostata. Jesus sah sie als ganze Menschen und machte sich auch ihre Not zu Eigen. Das war die erste und entscheidende Handlung in der Wundergeschichte. Das Wunder, gesehen zu werden, es geht oft so schnell vorbei. Es ist das Sehen des Schöpfers, der Blick allen Anfangs und der Liebe. Es ist der Blick, der Heilung frei setzt und damit Lob möglich macht.

 

V. Erstes Sehen

 

Nicht immer in unserem Leben beginnt eine erste Begegnung mit liebendem Blick und doch kann in dem ersten Sehen viel Kraft liegen. In dem Film „Ziemlich beste Freunde“, der auf einer echten Begegnung und Freundschaft beruht, lernen sich zwei sehr unterschiedliche Männer kennen.[ii]

Der vermögende Philippe ist seit einem Paragliding-Unfall vom dritten Halswirbelkörper an abwärts gelähmt und sucht eine neue Pflegekraft. Driss, der gerade eine sechsmonatige Haft wegen eines Raubüberfalls abgesessen hat, bewirbt sich der Form halber um die Stelle. Er ist sicher, dass er eine Absage erhalten wird. Er braucht jedoch eine Unterschrift als Bestätigung für das Arbeitsamt, um von dort Unterstützung zu erhalten. Driss erhält zu seiner Überraschung die Arbeitsstelle auf Probe. Philippe führt Driss an die klassische Musik und die Malerei heran. Driss bringt Philippe seinerseits dazu, seine Brieffreundin Éléonore in Dünkirchen anzurufen und ihr ein Foto von sich zu schicken. Im Laufe des Films entwickelt sich eine wunderbare Freundschaft.

Entscheidend ist die erste Begegnung der beiden. Beim Bewerbungsgespräch schaut Driss nicht nur auf den Rollstuhl und die Beeinträchtigung von Philippe, sondern sucht seinen Blickkontakt. Der zeigt sich von Driss beeindruckt, weil dieser nicht nur Mitleid mit ihm hat, zwar den Komponisten Berlioz nur als Stadtteil von Paris kennt, aber ihn, Philippe, als Menschen wahrnimmt.

Das richtige Sehen oder besser noch das richtige Gesehen-werden verändert Menschen. Das ist bei werdenden Freunden so, in der Liebe und auch bei der Heilung.

In meiner Erinnerung klingt zum Beispiel immer noch eine Stimme nach, als es mir einmal nicht gut ging. Lass mich mal sehen! Sagte mir diese Stimme. Ich weiß nicht mehr, wem diese Stimme gehörte. Aber dieses Sehen klingt im Herzen nach. Da will sich jemand Zeit für mich nehmen. Möchte sich auch des Weh annehmen, das man mitbringt und weiß offenbar Rat.

Solches Sehen wird Ihnen am Ende des Gottesdienstes zugesprochen. Der Aaronitischen Segen spricht davon, dass Gottes Angesicht über Ihnen leuchtet. Diese Augen aus einer anderen Welt voll Gnade und Wahrheit möchten Sie sehen, zum Leben und zur Freude leiten. Amen

Und der Friede Gottes bewahre unsere Herzen und Sinne in dem Leib Jesu Christi. Amen.


[i] Nach Gerhard Engelsberger, Predigtstudien I/2. Halbbd., 158f.

[ii] Zusammenfassung nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Ziemlich_beste_Freunde. Stand 23.7.2016.



Autor: Pfarrer Martin Kleineidam