Gottes Pädagogik

Römer 8,14-17


Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden. 

Liebe Gemeinde!

„Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ Kinder, altgriechisch „paidion“ (auch wenn Paulus hier ein anderes Wort für „Kind“ verwendet) und treiben, altgriechisch „agein“ – schon sind wir bei der Pädagogik. Auch wenn wir jetzt mitten in den Schulferien sind und kein Schüler, keine Schülerin an die Schule denken mag; sicherlich auch nicht die gestressten Eltern oder die Lehrer – ich will heute über Pädagogik predigen, allerdings über eine besondere Pädagogik, nämlich die Pädagogik Gottes. Im Wort Pädagogik stecken zwei Kernwörter unseres Predigttextes aus dem achten Kapitel des Römerbriefs, einem der schönsten Kapitel der Bibel überhaupt. Pädagogik kommt vom Kind, griechisch pais  und vom Führen, Leiten, griechisch agein, was Luther in seiner kräftigen Art mit „treiben“ übersetzt. Was für eine Pädagogik wendet Gott an in der Schule des Lebens, aus der wir erst mit unserem Tod entlassen werden und in es auch keine Ferien bzw. unterrichtsfreie Zeiten gibt? Zwei Formen der Pädagogik will ich gegenüberstellen und mit dem Wort „treiben“ veranschaulichen. (Entschuldigen Sie bitte, wenn es heute sehr Schwarz-weiß zugeht. Wenn man überspitzt, wird der Unterschied aber deutlicher).

Die erste Form lehnt schon Paulus bewusst ab, längst vor Comenius oder Pestalozzi, den Erfindern der modernen Pädagogik. Diese Pädagogik arbeitet mit der Angst. Man nennt sie heute „schwarze Pädagogik“. Für sie steht die Peitsche. Mit der Peitsche treibt man Tiere an. Aus einiger Entfernung kann man damit ohne großen Kraftaufwand Schmerz zufügen, wenn die Riemen auf die Haut knallen oder sich gar in Fleisch eindrücken. Das Tier, das die Peitsche gespürt hat, reagiert bald schon auf den Peitschenknall, aus Angst vor dem Schmerz, den es mit diesem Geräusch verbindet. Vielleicht vererbt sich diese Erinnerung, dass Reiter oder Dompteure gar nicht mehr schlagen müssen, sondern nur noch in die Luft schlagen oder die Peitsche zeigen müssen, damit das Tier gehorcht. Man könnte auch an andere Werkzeuge denke, zum Beispiel den Strick, den man der Kuh um den Hals legt und an dem man sie zieht (das war wohl die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes). Man könnte auch an die Sporen denken, die spitzen Eisensterne an den Stiefeln, die der Cowboy seinem Reittier gab und mit dem er es trieb und anspornte. Aber bleiben wir bei der Peitsche. Die wurde ja in der schwarzen Pädagogik gerne eingesetzt, genauso wie der Rohrstock.

Auch wenn die Zeiten der Peitsche, des Rohrstocks oder anderer Mittel körperlicher Züchtigung (wie man diese Form von Gewalt nennt) zum Glück vorbei sind, das Bild des Treibers mit der Peitsche ist aktuell. „Was treibt dich denn?“ fragen wir, wenn wir jemanden nicht verstehen, aus welchem Antrieb heraus, mit welcher Motivation er jetzt handelt. Was treibt den türkischen Staatschef Erdogan oder den amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Trump? Nun, manche Motive, sind ganz offensichtlich, wenn es um Macht geht oder darum, nationale Größe zurückzugewinnen. Doch haben nicht wir selbst, habe nicht ich selbst diese Treiber im Rücken? Ihre Peitsche ist oft die Angst. Heutzutage seltener die Angst vor Strafe. In manchen Staaten, wo der Koran als staatliches Gesetzbuch gilt, wird noch mit Peitschenhieben gestraft. Eher schon haben wir Antreiber in uns, wie es sie auf dem römischen Sklavenschiff gab, die die Geleerensträflinge mit der Knute zu höherer Schlagzahl trieben. Zum Beispiel dieser Ehrgeiz: das muss ich schaffen, das muss ich haben. Oder die Angst: ich schaffe es nicht. Ich werde nicht fertig. Es ist nicht genug.

Der Psychologe Sigmund Freud bezeichnete diese inneren Stimmen, die befehlen und fordern, die antreiben, als Über-Ich. In seinen psychologischen Analysen waren es oft Eltern, besonders Väter. Manchmal beginnt das schon mit der Namenswahl für das Kind: so musst du werden wie dein berühmter Namensvetter (was ist die weibliche Form?). Früher hieß das: so gescheit und gebildet wie Johann Wolfgang (von Goethe), ein musikalisches Wunderkind wie Wolfgang Amadeus (Mozart). Vor einiger Zeit vielleicht: so erfolgreich – sportlich und finanziell -  wie Boris (Becker) oder Steffi (Graf); schön und anmutig wie die französischen Namen suggerieren. Aber auch hier hat sich die Pädagogik geändert. Inzwischen sind andere Über-Ich-Instanzen an die Stelle der Eltern getreten, hauptsächlich vermittelt durch die Werbung und den Gruppenzwang. Jugendliche müssen unbedingt die Sportschuhe von Nike (nicht Wagner) haben oder die Jacken von einer Marke, die ich nicht kenne; das oder jenes Handy, I- oder smart phone. Auch eine Form von Sklaverei, die hauptsächlich den Geldbeutel der Eltern schmerzt. Und immer wieder dabei die Angst, nicht dazuzugehören, sondern ausgeschlossen, nicht anerkannt zu sein, sondern verspottet und verachtet, nicht „in“, sondern „out“ zu sein, nicht wertvoll, sondern minderwertig.

Wenn wir bei der Psychologie Sigmund Freuds blieben, dann stünde dem Über-Ich ein anderer Treiber gegenüber, nämlich der Trieb. Das, was uns aus der Tiefe des Unterbewussten heraus antreibt. Und da gibt es keineswegs nur den Sexualtrieb, der gleichwohl einer der mächtigsten ist. Die Alternative dazu, sich von dem Treiber, der einem im Nacken sitzt, sich von diesen äußeren Stimmen treiben zu lassen, die man mit der Zeit so aufgenommen hat, als wäre es die eigene – die Alternative ist ja nicht, sich von seinen Trieben treiben zu lassen und diese einfach auszuleben. Also das zu tun, worauf man jeweils gerade Lust hat oder was einem Spaß macht. Befreiung von der Knechtschaft, Freiheit ist nicht, sich der Herrschaft seiner Triebe auszuliefern. Das wäre nicht kindlich, wie Paulus es ausdrückt, sondern kindisch. Nur der Säugling lebt ganz und gar triebgesteuert. Wenn er Hunger bekommt, muss er ganz schnell an die Brust oder an die Flasche, sonst verzweifelt er. Mit der Entwicklung seines Verstandes, seines Geistes, lernt er zum Beispiel zu warten und zu vertrauen, dass Mutter oder Vater ihm schon was zu essen und trinken geben. Er überwindet seine Angst, verhungern zu müssen; oder allein gelassen und verstoßen zu sein, wenn nicht jeden Moment jemand in der Nähe ist. Entsprechend schreibt Paulus: der Geist Gottes lehrt uns, vertrauensvoll „abba“ zu rufen.

Für die Pädagogik Gottes möchte ich einen anderen Trieb hernehmen. Eine Pflanze treibt, nicht nur im Frühling. Ihr Trieb ist zart und stark zugleich, verletzlich und formbar, er kann erfrieren, aber auch den harten Boden oder gar eine Teerdecke durchbrechen. Ein Trieb ist neues Leben und Ausdruck von Wachsen, von Entwicklung. Die Pflanze wird größer, stärker, blüht und reift. Manches muss absterben, bleibt unentwickelt, aber was als zarter Trieb begonnen hat, soll zum Ziel kommen, zur Reife und zur Frucht. Die Pflanze treibt von selbst, aber der Gärtner oder der Bauer überlässt sie nicht sich selbst. Er lässt sie nicht einfach wuchern, nicht von anderen Pflanzen, vom Unkraut überwuchern,  sondern bereitet den Boden, hackt und düngt, bewässert, stützt, schneidet vielleicht zurecht. Gott ist wie ein Gärtner. Er überlässt seine Zöglinge nicht sich selbst.

Aber zurück zur Pädagogik. Die Pflanze der Pädagogik ist der Geist. Der Geist treibt aus und erobert neue Gebiete. Der menschliche Geist forscht. Kinder mit ihrer natürlichen Neugier sind an und für sich kleine Forscher mit ihren Fragen im Kleinkindalter oder ihrem Wissensdurst in der Grundschule. Der menschliche Geist erobert alle denkbaren Gebiete wie eine Pflanze, die ihre Wurzeln und Triebe ausstreckt. Der Geist soll stark werden, Urteilskraft entwickeln, sich nicht so leicht umwerfen lassen von allen möglichen Dummheiten oder abknicken wie ein Halm im Wind. Er soll blühen durch Kreativität, durch Ideen und Fantasie, und er soll Frucht bringen. Erkenntnis ganz verschiedener Art, am besten zum Nutzen für alle, und Weisheit, so wie sich König Salomo, als er sich etwas wünschen durfte, eben nicht Geld oder Gold wünschte, sondern Weisheit.

Wie leitet nun Gott seine Kinder? Paulus schreibt: Der Geist Gottes gibt unserem Geist Zeugnis, dass wir Gottes Kinder sind. Nicht schon wieder Zeugnisse! Nein keine Beurteilung, keine Angst vor schlechten Noten! Gottes Geist kommt in unseren Geist wie eine innere Stimme, vielleicht wie die Stimme eines Lehrers, und sagt uns, wer wir sind. Das scheint also die grundlegende Erkenntnis zu sein: dass wir wissen, wer wir sind: Kinder Gottes – oder um es in der Pflanzensprache zu sagen: seine Sprösslinge. Wenn es bei uns heißt. „vergiss nicht, wer du bist“, dann hat das oft einen mahnenden Ton, fast schon wie im Lied von Josef Degenhart: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder, geh doch in die Oberstadt, mach`s wie deine Brüder. Gottes Kinder sind nicht etwas Besseres, aber sie haben einen Vater im Himmel, zu dem sie rufen können: Abba, lieber Vater. Pädagogisch ausgedrückt: dieses Vertrauen, einen Vater im Himmel zu haben, der es gut mit mir meint, ermöglicht angstfreies Lernen, Fehler zu machen, ohne gleich Strafe fürchten zu müssen oder Liebesentzug. Vertrauen ist die Grundlage geistiger Entwicklung; auch Dinge in Frage zu stellen. Galileo wurde verurteilt aus Angst der Kirche, seine Erkenntnisse über Himmel und Erde würden den Glauben erschüttern. Vertrauen in Gott ermöglicht kritische Fragen und verhindert sie nicht; dieses Vertrauen hilft auch, die Widersprüche auszuhalten, in die ein Christ gerät, der seinen Verstand gebraucht; aber auch die Widersprüche und Anfechtungen, in die er in der Schule des Lebens gerät.

Lernen braucht Wiederholung (Repetitio est mater studiorum). Gottes Geist muss wohl ein Leben lang immer wiederholen, uns einzuflüstern, nicht einzupauken, wer wir sind: Gottes Kinder. Wie beim Lernen kommt es ja nicht darauf an, möglichst viel Wissen in den Kopf hinein zu trichtern, sondern einige wesentliche Sätze. Vielleicht ist das wie das Gießen eine Pflanze.. Die Schule des Lebens ist manchmal hart, aber immer wieder können wir neue Triebe entwickeln, auch noch im Herbst. Und wenn im Winter alles abgestorben scheint, dann sammelt sich die Lebenskraft schon in den Wurzeln für einen neuen Frühling. Paulus meint, dass wir die harte Schule des Lebens durchlaufen, damit neues, unverwelkliches Leben entstehen kann bei der Auferstehung. „Sind wir aber Kinder (Gottes), so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.“ Amen



Autor: Dekan Hans Peetz