Tränen abwischen

Offenbarung 21, 1-7


Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.

Liebe Gemeinde,

„und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen“. Gott wird tun, was wir jetzt auch immer wieder tun müssen: Tränen abwischen. Zunächst sind es wohl die eigenen Tränen, die man abwischt – wenn sie denn kommen. Tränen werden auch unterdrückt. Es geht vom Wegdrücken einer Träne bis dahin, keine Schwäche zeigen zu wollen. Früher hieß es: Männer weinen nicht, oder, als Aufmunterung an Jungs: ein Indianer kennt keinen Schmerz. Schulkameraden verspotten den Mitschüler, der weint, als den „letzten Heuler“ oder „Heulsuse“. Dieses Bild von Männlichkeit ist zum Glück weitgehend vorbei. Auch Männer dürfen weinen. Wir sagen, der oder die hat „nahe am Wasser gebaut“. Manchmal aber bleibt das Auge trocken, weil jemand nicht weinen kann, wenn der Schock zu groß, der Schmerz unerträglich ist. Dann kann es eine Befreiung für die Seele sein, wenn die Tränen zu fließen beginnen, und sei es beim Lied „So nimm denn meine Hände“ bei der Beerdigung. Tränen spülen nicht nur das Staubkorn aus den Augen und schützen das Auge vor dem Austrocknen, sie helfen auch, den Ballast von der Seele wegzuschwemmen. Dann nehmen wir das Taschentuch und wischen uns die Tränen ab.

Oder jemandem anderen. Es liegt etwas Tröstliches und Hilfsbereites in dieser Geste, schon darin, jemandem das Taschentuch zu reichen. Mütter und Väter wischen die Tränen von den Augen des Kindes, das sich wehgetan hat oder das traurig ist, weil das Lieblingstier gestorben ist. „Die Tränen abwischen“ wird zum Ausdruck von Seelsorge, auch wenn Menschen, die einander beistehen in der Trauer, diesen anspruchsvollen Ausdruck vielleicht gar nicht verwenden würden. Tränen abwischen könnte man als Symbol für die Hospizarbeit nehmen, auch wenn die Begleitung Todkranker und Sterbender natürlich viele andere Formen beinhaltet: einfach nur da zu sein, die Hand zu halten oder die Lippen zu befeuchten; vor allem das Gespräch, wenn es noch möglich ist; das Gespräch, in dem die Angst, die Trauer, vielleicht auch Wut und Zorn ausgesprochen werden können; in dem aber auch die Kräfte gesucht und gefunden werden können, die noch oder neu da sind angesichts des Sterbens; wo man das Gute bedenken kann, das war und das ist und bleibt; oder ein Bild, ein Bibelwort, ein Gesangbuchvers, den man zusprechen oder in Erinnerung rufen kann; das Vaterunser oder der 23. Psalm, bei dem sich die Lippen mit bewegen, selbst wenn jemand nichts mehr von der Außenwelt wahrzunehmen scheint. Und zum Glück gibt es dazu die Möglichkeiten der Medizin, speziell der Palliativmedizin, unnötige Schmerzen zu nehmen oder wenigstens zu lindern, was ja vor 40 Jahren, als ich als Vikar anfing, in der Medizin noch weitgehend tabu war.

Ja, das mit den Tränen ist so eine Sache. Wer als Seelsorger oder als Hospizbegleiterin selbst in Tränen zerfließen würde, weil ihm oder ihr das Leid so an die Nieren geht und sie vom fremden Schmerz so gerührt werden, dass er zu sehr zum eigenen wird, hält das nicht durch. Manche müssen Distanz lernen, nicht nur zum Selbstschutz, sondern um besser helfen zu können.

Dass es aber am Ende der Bibel von Gott selbst heißt, dass er alle Tränen abwischen wird, sehe ich als Anerkennung und Würdigung all unserer Bemühungen, zu trösten, Trauernde und Sterbende zu begleiten; nicht nur als Anerkennung und Würdigung der professionellen Seelsorger und Seelsorgerinnen, Helfer und Helferinnen, sondern auch der Angehörigen und Freunde, die in solchen Situationen da sind, nicht weglaufen oder kneifen, die die Last mittragen, auch wenn sie sie nicht abnehmen können; die nach guten Worten suchen, auch wenn sie vielleicht manchmal nicht die passenden finden oder verstummen. Dieses Tränen abwischen im weitesten Sinn ist Gottes Werk, ist Gottes Seelsorge. Die Menschen, die es tun, tun Gottes Werk. Sie sind, ob sie es wissen oder nicht, Gottes Werkzeuge. Es gilt nicht nur, was Jesus im Gleichnis vom großen Weltgericht sagt, wo er sich mit den Opfern, den Armen, den Leidtragenden, den Gefangen und Fremden identifiziert: „das, was ihr einem von diesem meinen geringsten Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Das, was ihr einem Kranken, einem Sterbenden, einem Trauernden getan habt, das habt ihr mir getan, im positiven Sinn: angetan. Auch das andere gilt: durch eure Hände und Münder, durch eure Augen, euer Lächeln, durch eure Medikamente und Behandlungen, handelt Gott selbst, behandelt er die Menschen. Gibt es eine höhere Würdigung für den Dienst der Angehörigen oder der Hospizhelfer oder der Seelsorger, als dass Gott durch uns handelt, dass er seine Gnade und Liebe, seine Hilfe durch uns erzeigt?

So werden Tränen abgewischt bei uns. Die kommen wieder. Erinnerungen rufen sie wach, so wie es vielen Trauernden jetzt an Weihnachten gehen wird. Die Erinnerung ist eben nicht nur das Paradies, aus dem niemand einen vertreiben kann, wie Jean Paul sagt und wie es viele für die Todesanzeigen als Motto wählen. Erinnerungen schmerzen wie manche Narben, Wunden brechen auf. Gerade dann, wenn wieder bewusst wird, wie sehr ein lieber Mensch fehlt – so wie eben an Weihnachten. Tränen kommen immer wieder, solange die Ursachen nicht beseitigt sind. Das ist eben der Unterschied zu dieser großen Verheißung von dem neuen Himmel und der neuen Erde. Es ist, wie wenn die letzten, übrig gebliebenen Tränen weggewischt werden. Und es gibt keine neuen, weil das, was uns traurig, wütend oder verzweifelt macht, nicht mehr ist. „Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.“ Das ist die Hoffnung der Christen angesichts des Todes. Sie wird oft an den Gräbern verlesen, wo die Erde aufgegraben wurde, damit sie den Leichnam aufnimmt, dort, wo der Tod zu triumphieren scheint und das letzte Wort haben will, wo es heißt: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub; wo die Blumen, die man hinein wirft und die Erde, die auf den Sarg geworfen wird, die Endgültigkeit zu besiegeln scheinen, das Aus; der kehrt nicht wieder zurück. Diese Hoffnung wird dort verlesen, wo beim hinabsenken mancher verzweifelte Schrei ertönt und an die vielen Schreie in dieser Welt erinnert. Wo das Leid und der Schmerz mit Händen zu greifen sind, gerade da gehören diese Worte hin: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen, und er wird bei ihnen wohnen; und er selbst, der Immanuel, der Gott mit ihnen, der seine Hilfe und seinen Beistand im Namen trägt, wird ihr Gott sein. Auf dem Thron des Herrschers sitzt kein Totengerippe, kein Skelett mit Sense, da prangt als Wappen nicht der Totenkopf, sondern da steht das Kreuz, das leere Kreuz. Auf dem Thron des Herrschers sitzt der, der spricht: Siehe, ich mache alles neu. Deshalb ist in unserer evangelischen Kirche der Totensonntag zugleich der Ewigkeitssonntag, und in der katholischen Kirche der Christkönigsonntag.

Auch wenn es heißt, dass Gott alle Tränen abwischen wird, es könnte ja Freudentränen geben. Manchen Leuten kommen bei sentimentalen Filmen die Tränen nicht, wenn es besonders traurig zugeht, bei Gewaltszenen sowieso nicht, wenn das Blut fließt oder die Schreie der Opfer – wie es heißt – das Blut zum Gerinnen bringen. Manchen Leuten kommen die Tränen beim happy end, wenn der Streit geschlichtet und die Versöhnung besiegelt wird, wenn die Krankheit überstanden, die Lebensgefahr vorüber ist. Solche Freudentränen dürfen gerne weiter fließen, auch im Himmel. Vielleicht auch Tränen der Reue, wenn man sein Leben vorüber ziehen lässt vor den eigenen Augen und den Augen Gottes, wenn alle das sehen, was all die Zeit verborgen und geheim gehalten wurde, wenn die Herzen offenbar werden und die Abgründe, die in einem jeden lauern. Doch so wie beim Reiter über den Bodensee, den der Schreck erfasst, wie dünn das Eis war, das eben in dem Moment einbricht, als er sicher auf festem Boden, am anderen Ufer angekommen war.

Oft verhallt diese Lesung am Grab im Wind, in der Weite. Aber auch wenn sie laut gelesen, vielleicht mit Lautsprecher verstärkt wird, sie erreicht nicht alle, sie kann in diesem Augenblick viele nicht erreichen. Und das nicht wegen der Entfernung. Oft sind es die, die am nächsten stehen, die kein Ohr haben für die Botschaft von der Auferstehung, vom ewigen Leben; die nicht wie Faust beim Osterspaziergang spotten: die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, sondern die in ihrer Trauer und Verzweiflung eben nicht glauben können, so dass die Worte ihr Herz nicht erreichen. Doch wie oft wissen wir auch sonst nicht, ob unsere gut gemeinten, tröstenden Worte wirklich das Herz erreichen, wirklich etwas verändern. Aber manchmal wird einem ein Wort ins Ohr gesetzt. Es ist am Anfang wie ein Fremdkörper, wie das Ohrenschmalz, das man mit dem Wattestäbchen entfernen möchte. Es wird vielleicht zum Ohrwurm, den man nicht mehr los wird, ein Wort, das sich einnistet wie der kleine „Mann im Ohr“. Vielleicht hört man dann doch einmal hin und es wird zum Begleiter, der sich immer wieder zu Wort meldet. Und wenn man daran denkt, könnte ein Lächeln aufkommen. Gar nicht so schlecht, passt doch: und er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.

Das ist doch eine Zukunftsperspektive, auch dann, wenn es im Moment ganz anders aussieht, um einen herum oder in einem drin. Wir beten ja in jedem Vaterunser: dein Reich komme. Das ist unsere Zukunftsperspektive, die der Hoffnung. Aber dass die Tränen abgewischt werden, das geschieht schon jetzt, ganz real mit dem Taschentuch und im übertragenen Sinn in der Arbeit der Hospizhelfer, der Palliativkräfte, in den stationären Hospizen wie unserem Albert-Schweitzer-Hospiz. Es klingt vielleicht ungewohnt, wenn ich in diesem Zusammenhang sage: das ist ein Stück Himmel auf Erden. Den Himmel auf Erden verbinden mit Lachen und Fröhlichkeit, mit Wohlstand und Glück, ja vor allem mit Liebe. Aber wenn im Himmel die Tränen abgewischt werden, dann ist der Himmel auch und schon jetzt da, wo bei uns Tränen abgewischt werden. Letztlich ist das ja ein Akt der Liebe. Amen



Autor: Dekan Hans Peetz