Unterwegs

Shaina Otman, Flucht aus Syrien

Shaina Otman, Flucht aus Syrien

2. Samuel 7,4-6.12-14a


Liebe Gemeinde,

 

I. Wir sind unterwegs

 

Wo wir Heimat, Wohlgefallen und Frieden finden, da ist Weihnachten. Viele von uns waren heute und gestern lange unterwegs, um an diesem Abend, dem Heiligen Abend, wieder heimatlichen Boden unter den Füße zu spüren. Studentinnen und Studenten oder Lehrlinge auf der „Walz“ werden unter uns sein, die große Entfernungen in den vergangenen Tagen zurückgelegt haben, um hier sein zu können. Pendler werden froh sein, den täglichen Strapazen des Hin und Zurück entronnen zu sein, um hier Ruhe zu finden. Wie viele werden da sein, die aus beruflichen Gründen im Ausland untergebracht sind, um jetzt ein paar ruhige Stunden bei ihren Lieben haben zu können. Einige unter uns sind aber auch kurz davor, sich auf Reisen zu begeben, dem Alltag zu entfliehen. Manch einer befindet sich mitten im Umzug oder im Absprung von zu Hause.

 

II. Ein ruheloser und unnahbarer Gott?

 

   Wir leben in einer Gesellschaft, die meist ständig unterwegs ist. Alle haben wir uns heute Nacht von zu Hause aufgemacht, um dem „Unterwegssein“ zu entkommen, ein Stück Heimat zu gewinnen, vielleicht sogar Wohlgefallen und Frieden Weihnachten zu finden.

 

   Auch in der Weihnachtsgeschichte nehmen wir Menschen wahr, die sich auf machten, ebenso unterwegs waren wie wir: Joseph machte sich aus Galiläa auf, um mit seiner schwangeren Frau in die Davidstadt zu gehen. Eine Volkszählung hat ihn auf den Weg gebracht. Die Hirten verließen die Schafzäune, um das zu finden, was ihnen verheißen war. Selbst die Engel fuhren nach getaner Arbeit wieder in den Himmel.

 

Wir merken, wir sind nicht allein mit unserem Unterwegsein. Selbst von Gott heißt es, dass er ständig unterwegs sei:

Schon die Stammväter des Glaubens wussten Gott auf dem Weg. Der Herr begegnete Abraham im Hain bei Mamre. (1. Mos. 18). Jakob, auf der Flucht sah im Traum die Engel Gottes auf der Himmelsleiter auf und ab steigen (1. Mos. 28,10ff.) und kämpfte am Fluss Jabbok mit dem Allmächtigen. (1. Mos. 32,23ff.). Gott zog dem Volk Israel voran durch die Wüste, verborgen in Wolkensäulen und sandigen Wüstenteufeln. (1. Mos. 13,17ff.). Gott war mit Mose und dem Volk Israel unterwegs mit der Bundeslade der zehn Gebote oder in einer transportablen Stiftshütte, einem zeltartigen Bau aus blauen und roten Teppichen sowie verschiedenartigen Tierfellen (1. Mos. 26)

 

Ein unsteter Gott unterwegs mit einem nomadischen Volk und doch zeigte er sich irgendwie unnahbar. In der Weihnachtsgeschichte werden wir auf Davids Stadt verwiesen. Sollte sich die Ruhelosigkeit und Unnahbarkeit Gottes durch den König David ändern? Wir hören den Predigttext für die Heilige Nacht aus 2. Sam. 7:

 

(4) In der Nacht aber kam das Wort des HERRN zu Nathan:

(5) Geh hin und sage zu meinem Knecht David: So spricht der HERR: Solltest du mir ein Haus bauen, dass ich darin wohne?

(6) Habe ich doch in keinem Hause gewohnt seit dem Tag, da ich die Israeliten aus Ägypten führte, bis auf diesen Tag, sondern ich bin umhergezogen in einem Zelt als Wohnung.

(12) Wenn nun deine Zeit um ist und du dich zu deinen Vätern schlafen legst, will ich dir einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommen wird; dem will ich sein Königtum bestätigen. (13) Der soll meinem Namen ein Haus bauen, und ich will seinen Königsthron bestätigen ewiglich. (14) Ich will sein Vater sein, und er soll mein Sohn sein.

 

III. Bauwerke für den Frieden

 

   König David wollte Gott ein Haus bauen, einen Tempel. Wie alle anderen Völker wollte auch er einen Gott in der Hauptstadt haben. Doch das gelang erst seinem Sohn Salomo, der auf dem Berg Morija (2. Chr. 3ff.) den ersten Tempel in Jerusalem baute. Der wurde bekanntlich 587f. v. Chr. durch die Babylonier zerstört. Wenige Jahrzehnte später wurde der zweite Tempel (etwa 515 v. Chr.) vollendet, durch Judas Makkabäus militärisch befestigt (nach 169 v. Chr.) und etwa 20 Jahre vor Christi Geburt durch Herodes im griechischen Stil erweitert und umgebaut. Aber auch dieser zweite sog. Herodianische Tempel brachte keinen Frieden. Der Evangelist Lukas war Zeitgenosse von dessen Zerstörung 70 n. Chr. durch den Feldherren und späteren Kaiser Titus. Die Römer ließen an seiner statt einen Jupiter-Tempel errichten und die Muslime nach einem kurzen christlichen Intermezzo (unter Kaiser Konstantin) den Felsendom (691) und die Al-Aqsa-Moschee (705/715). Frieden auf Erden, den die Engel den Hirten verheißen hatten, haben die Bauwerke in Jerusalem bis heute nicht gebracht. Es sind und waren eben Bauwerke, die aber keinen Frieden bringen, wenn der nicht im Herzen der Menschen wohnt.

 

IV. Ein Bild der Flucht spricht für uns

 

Um den Tempelberg erstreckt sich eines der unruhigsten Krisengebiete der Welt. Ganz besonders kriegerisch geht es bekanntermaßen in Syrien zu. Damaskus die Hautstadt ist gerademal 5 Autostunden von Jerusalem entfernt.

 

Ein Bild von Shaina Otman, die wegen des Terrors und des Krieges aus Syrien geflohen ist, habe ich Ihnen mitgebracht. Es entstand in einem Kirchenasyl in Immenstadt/Allgäu. Otman hat ihre Flucht in einem Zyklus festgehalten. Wir sehen auf diesem Bild Menschen, die in einem offenen Container zusammengekauert eng beieinander sitzen. Draußen scheint der Mond durch einen blattlosen Baum. Es scheint Winter. Eine Eule sitzt über dem Container und kündet von der Nacht im Land. Der Vogel der Weisheit hat die Augen geschlossen. Nur Sie und ich, wir schauen hin: Die Augen der Flüchtenden sind wie bei der Eule zu. Otman malt alle Menschen ihres Bilderzyklus mit geschlossenen Augen, ob sie laufen oder kauern. Müdigkeit und Erschöpfung spricht aus ihren Gesichtern. Am meisten hat mich bewegt, dass die Figuren keine Münder haben. Elend ist oftmals stumm. Die Frau im roten Kleid links hält eine Pflanze in der Hand. Die rote Blume lässt ihren Kopf hängen, ein Zeichen dafür, dass die Hoffnung auf Rettung welkt. Ich habe dieses Bild für den heutigen Abend gewählt, weil es für viele von uns spricht. Für die, die erschöpft hier hergekommen sind, die zwar nicht wie die Apostel per pedes und schuhlos wie die Menschen in diesem Container unterwegs sind, aber vielleicht doch innerlich ruhelos, auf der Flucht vor dem Alltag, der sie verschlingt und vor so manch anderem. Das Bild spricht für jene, deren Hoffnung nahezu am Ende ist, die wortlos sind in ihrem Elend oder Herzeleid, die sich nach einer Verheißung nach königlicher Gotteskindschaft sehnen, wenn sie diese Hoffnung nicht sogar schon längst aufgegeben haben.

 

V. Es weihnachtet, wenn die Worte der Engel in uns wahr werden

 

Das Bild könnte ganz und gar ein Bild der Hoffnungslosigkeit sein, wenn da nicht die Lichtpunkte wären, die im goldenen Schnitt, in der oberen Mitte des Bildes erscheinen. Ein Fünkchen Hoffnung fällt auf die Wange des Kindes, das völlig erschlafft über der Schulter des Mannes im Vordergrund ruht. Ich hatte die hellen Punkte zunächst für Schneeflocken gehalten. Bis mir auffiel, dass die weißen Himmelsflecken nur über der Familie rechts gemalt sind. Wie bei Nathan und David kommt hier eine Verheißung über sie. Eine Verheißung, die Menschen berührt. Mit dem Lichtpunkten der Verheißung bekommt für mich auch der Predigttext einen ganz neuen Sinn. Gott, der unstete, will ein Haus. Sein Name soll in diesem Haus von vielen Menschen hoch gehalten werden wie im Palast eines Königs. In diesem Haus sollen die Menschen auch zu Ruhe kommen, Frieden und Wohlgefallen finden. Der Evangelist Johannes hat erkannt, dass in der Verheißung des Nathan nicht von einem Gotteshaus aus Stein und Holz die Rede ist, sondern von einem Tempel aus Fleisch und Blut in Christus Jesus. (Johannes 2,21).

Der Unnahbare möchte in diesem Spross den Menschen nahe kommen: „Ich will sein Vater sein, und er soll mein Sohn sein.“ In ihm macht sich Gott nicht nur ein Haus, er macht sich nahbar wie in einer Familie. Denn der Sohn behält dieses majestätische Erbe nicht für sich. Er teilt seinen himmlischen Glanz in Brot und Wein. Will sich heute Abend in den Elementen des Festes mit uns verbinden, uns Haus, Heimat und Wohnung sein. Was geschieht an Weihnachten, was geschieht mit uns? Am deutlichsten wird mir das Weihnachtsgeheimnis, wenn ich beim Valetsegen auf dem Friedhof spreche: „Es segne dich Gott, der Heilige Geist, der dich zu seinem Tempel bereitet und geheiligt hat.“ Wir werden zum Tempel Gottes gemacht.

 

Liebe Schwestern und Brüder, Heimat gewinnen wir, wenn wir ein paar bekannte Lieder singen. Wohlgefallen finden wir, wenn wir vertraute Worte hören, die wir wie Maria in unserem Herzen bewegen. Es weihnachtet ganz und gar um und in uns heute Abend, wenn sich unsere Lebens- und Wandergeschichte mit der Geschichte dieses Sohnes Gottes verbindet; denn dann werden die Worte in uns wahr, die die Engel verkündet haben: Friede auf Erden. Amen.



Autor: Pfarrer Martin Kleineidam