So wahr mir Gott helfe!

Festgottesdienst zur Eröffnung des Luther-Jubiläumsjahres


So wahr mir Gott helfe!
Liebe festliche Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!
im Lutherjahr wird gewählt. Wir haben Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Der Bundestag wird neu gewählt und der Bundespräsident. Unsere Politiker und Politikerinnen leisten bei Antritt ihrer Position einen Amtseid. Der kann weltlich, säkular enden. Oder sie fügen einen wichtigen Satz hinzu: "So wahr mir Gott helfe".

"So wahr mir Gott helfe" zu sagen oder wegzulassen, ist ein Recht, das das Grundgesetz ausdrücklich festschreibt. Wir haben Glaubens und Bekenntnisfreiheit. Martin Luther, an den wir heute in besonderer Weise denken, hat es so formuliert: „Das Gewissen soll niemandem unterworfen sein, weil es durch das Evangelium Freiheit von der Sünde hat, vom Tode, vom Gesetz, von der Hölle und von allen menschlichen Satzungen''· Das Recht auf individuelle, auf persönliche Religionsfreiheit, das erst im letzten Jahrhundert juristisch festgeklopft wurde, hat eine seiner Wurzeln in Luthers fester Überzeugung von dem. Vor rang des Gewissens vor aller weltlichen und geistlichen Ordnung.
Wir können uns nicht beschweren, wenn Politiker von diesem Recht Gebrauch machen. Auch deswegen nicht, weil viele, die den Satz nicht sagen, dennoch Christen sind. Sie äußern sich positiv über die Rolle der Kirchen und achten unseren Beitrag zur Toleranz und unser diakonisches Engagement. So wahr mir Gott helfe, oder: Ja, mit Gottes Hilfe. Ein Satz, den Eltern und Paten in der Kirche sprechen, wenn sie ihr
Kind am Anfang seines Lebensweges taufen lassen. Ein Satz, den junge Leute sagen, wenn sie konfirmiert werden und sich selbständig zu ihrem Glauben bekennen. Ja, mit Gottes Hilfe sagen Paare, die die Freude und Mühen eines gemeinsamen Weges auf sich nehmen wollen.
So wahr mir Gott helfe. Ein guter Satz. Ein vernünftiger Mensch weiß, dass man längst nicht alles so locker schultert, wie man es gerne hätte. So wahr mir Gott helfe, ist ein klares und selbstkritisches Bekenntnis. Und ein revolutionäres. Martin Luther hat es 1521 auf dem Reichstag in Worms abgelegt, als kirchliche und weltliche Obrigkeit ihn drängen wollten, gegen sein Gewissen zu handeln. Er hat sich mit dem Glauben an das, was ihm heilig war, niemals in die Knie zwingen lassen. Politiker und Politikerinnen könnten ihm in seinem Mut nachfolgen. Sie haben oft Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen ergreifen, die den Beifall der Massen nicht finden, obwohl sie notwendig sind.
Solche Maßnahmen müssen sein, wenn sie der Schöpfung nutzen oder für mehr Gerechtigkeit sorgen. Wenn sie der Integration ausländischer Mitbürger in unseren demokratischen Rechtsstaat dienen.
Oder diese Maßnahmen sind nötig, um fundamentalistische Gewalt von rechts, links oder aus dem Bereich der Religionen zu verhindern. Es kommt in der Politik auf Ideen und Ideale an, auf einen weiten Horizont. Dafür steht das Wort Gott auch - für Visionen von einem menschenwürdigen Leben, das alle Kreaturen einschließt. So wahr mir Gott helfe. Es nimmt dennoch zu, dass Regierungen sich nicht einmütig zu der Verantwortung gegenüber den Menschen und vor Gott bekennen.
Die Gründe dafür sind unterschiedlich, darüber haben wir nicht weiter zu spekulieren. Trotzdem lässt einen das Ereignis der Vereidigung weiter denken. Was ist uns in dieser Gesellschaft insgesamt, was ist jedem und jeder von uns noch heilig? "Nichts Heiliges ist mehr, es lösen/ sich alle Bande frommer Scheu, / Der Gute räumt den Platz dem Bösen, / und alle Laster walten frei." Diese Sätze sind weit über 200 Jahre alt. Friedrich Schiller hat sie niedergeschrieben in seinem "Lied von der Glocke“ (1799). Manch einer mag sich dem heute anschließen. Das Lamento von uns ganz normalen Sterblichen im Blick auf die Lage der Nation ist groß.
Es gibt keine Ehrfurcht mehr unter der Jugend, sagen viele der Alten. Die Leute sind nicht mehr fromm, jammern manche Geistliche. Die Straftaten werden zahlreicher, unken Zeitungen, die gerne mit "Entsetzen Scherz treiben", wie Schiller sagen würde. Im Fernsehen bloß noch Gewalt und eindeutig Zweideutiges, sorgen sich viele Eltern und Frauenverbände. Kritik am Zeitgeist ist durchaus angebracht - denn vieles ist tatsächlich nicht mehr heilig. Das Privatleben zum Beispiel. In täglichen Talk-Shows kehren Jugendliche, Männer und Frauen vor einem Millionenpublikum ihr Innerstes und Intimstes nach außen, was oft genug einen gewaltigen Seelenmuskelkater hinterlässt.
Skepsis über alle Institutionen nimmt zu; Witze, die das religiöse Empfinden verletzen, sind längst nicht mehr verpönt. Einen Feiertag, den Buß- und Bettag, haben wir längst verloren. An Sonntagen werden immer wieder die Geschäfte für Einkaufsbummel geöffnet. Kirchengemeinden pfeifen gelegentlich auf den sakralen Charakter ihrer Gebäude und hängen schon mal frohgemut Werbung für einen gewalttätigen Actionthriller an den Kirchturm. "Nichts Heiliges ist mehr, es lösen/ sich alle Bande f r o m m e r Scheu, / Der Gute räumt den Platz dem Bösen, / und alle Laster walten frei. Nachdem diese Klage so alt ist, kann man sagen: Keine Panik.
Der Untergang des Abendlandes ist damals, zur Zeit Schillers, ausgeblieben. Er wird sich auch jetzt nicht ereignen, bloß weil wir es meinen. Der Zerfall unserer Gesellschaft, das Ende der Welt liegen nicht in unserer Hand - ganz gleich, wie intensiv oder dumm wir versuchen, beides herbeizuführen. Luther  sagte, „ selbst wenn die Menschen sich halb zerreißen, kommt nichts, bevor nicht Gott Zeit und Stunde festgesetzt hat“. Ein solches Vertrauen verhindert Kulturpessimismus. Es verhindert auch Spekulationen über unseren Untergang, die sich bislang immer als Fehlprognosen erwiesen haben. Vertrauen auf Gott als den Herrn der Geschichte macht gelassen und vernünftig.
Damit ist nicht einfach Entwarnung gegeben. Es ist unsere Aufgabe, Verantwortung für das Heilige in unserem Privatleben und der Gesellschaft zu übernehmen. Dazu passt der überragende  Erkenntnisgewinn Luthers. Der Mensch ist von den elementaren Grundbeziehungen her zu verstehen, in denen er und sie ihr Leben gestaltet. Entscheidend ist die rechte Beziehung zu Gott und in ihrem Gefolge auch die zum Mitmenschen. Welt und Menschen erhalten dadurch einen unendlichen Wert, dass Gott sich in diese Welt hinein begeben hat und selbst Mensch geworden ist. Wenn Gott sich den Menschen hautnah nähert, wenn er im Wortsinn distanzlos wird - dann sollen und dürfen Kinder, Frauen und Männer sich geliebt und - akzeptiert wissen. So, wie sie erst einmal sind. Wir sollen die Angst verlieren, nichts zu taugen und dürfen uns unserer Gott gegebenen Würde bewusst werden. Das macht stark und zuversichtlich, auch wenn man schwach und hilflos ist. Jesus sagt "ich lebe und ihr sollt auch leben''· Ihr sollt sein mit der inneren Freiheit davon, wie euch die Welt ansieht. "So wahr mir Gott helfe" – wenn wir das sagen, übernehmen wir Verantwortung und haben Einsicht in die eigenen Grenzen. Was ist uns heilig, hilft uns zum Leben und zum Sterben.
Das Bibelwort für heute bündelt, was wir bisher bedacht haben. Ich lese aus dem Römerbrief im dritten Kapitel: „Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung,
die durch Christus Jesus geschehen ist ... so halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des ·!Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“. (Röm 3, 22-24.28) Die Rechtfertigung allein aus Gnaden geschieht durch Christus. Der am Kreuz hängt, ist Gottes wahrer Mensch. Einer, der andere leben lässt. Der sich und uns bejaht unabhängig von dem, was wir darstellen.
Heilig ist mir die Überzeugung, dass alle gläubigen Christenmenschen ein Priesteramt ausüben dort, wo sie leben und arbeiten. "Was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht zu sein, obwohl es nicht jedem ziemt, solch Amt zu üben" bringt das Luther auf einen Nenner. Wir, die wir Talar tragen, sind Diener und Dienerinnen, die um der Ordnung willen mit unserem Amt betraut sind. Heilig ist die Wertschätzung und Verpflichtung der Aufgaben, die jeder von uns wahrnimmt. "Ein Knecht im Stall", -sagt Luther, "ein Knabe in der Schule dienen Gott. Wenn die
Magd und die Herrin fromm sind, so heißt das Gott gedient ...

Gottesdienst ist Gottes Lob, der will frei sein, bei Tische, in der Kammer, im Keller, auf dem Boden, im Hause, auf dem Felde, an allen Orten, bei allen Personen, zu allen Zeiten. Wer dirs anders sagt, der lügt." Jeder weiß, dass er seinen Aufgaben standhalten muss. Jeder darf auch wissen, dass er nicht allein gelassen ist. Weder mit dem, was ihm oder ihr trotz bestem Wissen und Gewissen danebengegangen ist, noch mit dem, was im eigenen Leben alles glückt. Der Eigen-Sinn Luthers ist Beginn einer großen Revolution. Einer Revolution, die nichts anerkennt und gelten lässt, es sei denn durch selbständige und von äußerer Autorität unabhängige, an Christus orientierte Gedanken gerechtfertigt.
Wenn wir uns an Auseinandersetzungen unserer Gesellschaft beteiligen, dann müssen wir unsere Positionen gut biblisch begründen können. Die Schrift ist kein Antwortbuch auf aktuelle Fragen. Aber sie gibt laut Luther die Richtung vor, zeigt mit ihrem "was Christum treibt", was uns inspirieren soll. Christsein ist im Kern eine individuelle Beziehung zwischen dem Gläubigen und Gott. Es erfordert das persönliche Gefühl des einzelnen, seine Nachdenklichkeit, seinen eigenen Glauben. Kopf und Herz. Ein Vollzug des Glaubens ohne innere Übereinstimmung, nur auf Anweisung hin, macht keinen Sinn. Das ist wie in der Liebe, die den ganzen Menschen braucht. Der Glaube auch.
Glaube lebt von der bewussten Beteiligung der Gläubigen, wie übrigens auch die Kunst von denen lebt, die sich ihr mit Leib und Seele verschrieben haben - als Künstler, wie unsere großrtigen Musiker heute, oder als leidenschaftliche, auch kritische Interessenten. Ich denke an Dekan Peetz, der uns immer  jieder neu überrascht und fasziniert mit seiner Kunstsinnigkeit. Und in der Kunst Heiliges entdeckt… So wahr mir Gott helfe. Das Bewusstsein, mit individuellen Gaben und Fähigkeiten gesegnet zu sein, beflügelt und verpflichtet zu neuen Taten. Wir dürfen uns unserer selbst gewiss sein und auf Gottes Beistand hoffen. "Ich kann nicht anders", wie Luther gesagt hat, ist weder stur noch engstirnig. Es
heißt:
Ich will und muss so handeln, weil ich nach reiflichem Nachdenken überzeugt bin von dem, was ich tue. Wer Kopf und Herz gewissenhaft befragt, sich und andere dabei beachtet, der wird Gott und seiner inneren Stimme folgen und dafür demütig viel in Kauf nehmen. Wer unfähig ist zur Demut, der ist immer bereit zur Vernichtung anderer. Gerade deshalb müssen wir wachsam sein. Wachsam im Blick auf Menschen, die sich ungeliebt fühlen, gemobbt, verachtet. Die nicht spüren, dass ihr Leben anderen
heilig ist. Es ist unsere Aufgabe, teuflischen Strukturen und Verhaltensmustern so zu wehren, dass gerade junge Leute sich in Freiheit entfalten können und zugleich feste Orientierung an die Hand bekommen. Kinder und Jugendliche brauchen tragfähige Werte. Sie müssen merken, was uns heilig ist. Wenn junge Leute sich zum IS aufmachen, dann hat das viele Gründe. Einer davon ist nach meiner Überzeugung, dass etwas nicht stimmt mit der zeitgenössischen liberalen Art. Nichts ist mehr heilig,
„anything goes“, Allerwelts-Wischiwaschi ist kein überzeugendes Credo. Junge Leute wollen und brauchen klare Orientierung. Orientierung, um sie für sich nach gründlichem Nachdenken zu  übernehmen. Oder, um sich daran zu reiben und dann eine eigene Position zu finden. Eine Gesellschaft, der nicht mehr heilig, sondern alles gleich gültig ist und die damit völlig gleichgültig wird, übt keine Faszination aus.
Schon gar nicht auf junge Leute, die sich finden wollen, die Werte entdecken möchten, Heiliges, dem es sich nachzueifern lohnt. Furchtbar, wenn wir nichts anbieten und damit versagen – stattdessen  Terrortruppen ihre tödliche Botschaft an den Mann und die Frau bringen. Seien wir nicht lasch, lau, betulich, sondern stehen wir energisch, vital und passioniert für unsere Werte ein: Leben, Nächsten- und Feindesliebe, Gerechtigkeit für diese Welt, sozialer Friede. Seien wir geistig hellwach,  gesprächsbereit, setzen wir uns auseinander und ein für das, was wir glauben! Ja, das ist anstrengend. Aber wir sind damit nicht allein. Gott schickt stets aufs Neue seinen Geist, seine  Inspiration für uns.

Es ist an der Zeit, unserer Gesellschaft, uns selbst ins Gedächtnis zu rufen, was evangelisch sein bedeutet. Evangelische Frömmigkeit – das ist Ausdruck eines Gottvertrauens, das persönliche Freiheit mit Verantwortung für sich und andere verbindet. Ein Christsein, das sagt: „So wahr mir Gott helfe!“ Evangelisch, protestantisch fromm bedeutet, Gott von Herzen dankbar zu sein für die Freiheit, die er uns zumutet und zutraut. Als Christenmensch die Welt nicht zu fliehen, das ist geistlich wohl zu begründen und geradezu lebensnotwendig. Gott ist Mensch geworden, hat sich aus freien Stücken vom Jenseits ins Diesseits begeben, um uns nahe zu kommen.
Unsere Aufgabe ist es, ihm nachzufolgen, ganz Mensch zu werden. Darauf zu achten, dass es den Menschen gut geht, sie vom himmlischen Heil schon etwas auf Erden spüren und das, was uns hier geschenkt ist, in Ehren, ja heilig halten. Alles, was uns heilig ist: Das ist Gott, der für einen unendlichen Horizont des Lebens steht. Bei dem wir als Person angesehen und angenommen sind mit dem, wer wir wirklich sind – unabhängig von dem, was andere von uns halten. Als Zeichen dafür haben wir die Sakramente von Taufe und Abendmahl. Heilig sind die Gaben, die uns anvertraut sind, heilig, die  unterschiedlichen Aufgaben, die wir zu bewältigen haben. So wahr mir Gott helfe. Heilig ist die Gemeinschaft der Gläubigen, zu der wir gehören und der Respekt vor allen Geschöpfen und  Ebenbildern Gottes. Der Schriftsteller Albert Camus hat geschrieben: „Kann man ohne Gott ein Heiliger sein, das ist das einzig wirkliche Problem, das ich heute kenne". Gut evangelisch können wir  antworten: "Wir sind allesamt Heilige, weil es Gott gibt." So wahr er uns helfe. Amen .



Autor: Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler, München