94 und 95 Thesen - 4. Akademischer Gottesdienst der 9. Reihe

Römerbrief 12,1-2


Gnade sei mit Euch und Friede, von dem der da ist, und der da war, und der da kommt.


Liebe Gemeinde,
„Meine Seele harrt auf ein Wort“ – ich warte in äußerster Spannung auf ein ganz bestimmtes Wort, wie der Wächter am Morgen, ein Wort das mir den Tag erleuchtet. – so haben wir den Beter des Psalms 130 gehört.
Das war auch ganz besonders ein Psalm Martin Luthers, der wie ein Wächter am Morgen auf die Morgenröte gewartet hat auf ein Wort, ein Wort, das Gott allein nur sagen kann – ein Wort, das nur von ihm kommen kann.


Und so mögen Sie hier auch in den Gottesdienst gekommen sein, um ein Wort zu hören, das Sie anderswo nicht hören können – ein wirkliches Wort, eine Botschaft, die kein Mensch erfinden oder sich anmaßen kann in die Welt zu tragen, kein Mensch, der vielleicht als Prophet oder eben als Prediger auftreten würde – einen Hammer nähme und Thesen an die Kirchentüren schlagen würde, so wie viele ihre Thesen plakatieren oder in die Welt twittern. Welche Thesen werden nicht jeden Tag in die Welt gesetzt?!


Was aber ist die Botschaft, die allein von Gott kommen kann? In der ersten der 95 Thesen von Martin Luther lautet sie so:


Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: "Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.


Unser ganzes Leben soll Buße sein, eine Umkehr zu Gott. „Umkehr“ zu Gott - Das ist nicht irgendeine Aufforderung, es muss alles anders werden, mit Dir und der Welt, nicht die Forderung, Du musst Dein Leben ändern, die Forderung, Du musst lernen, wie es weitergeht, sondern Umkehr zu Gott. Unser Leben muss sich nicht im Suchen nach Orientierung verlieren, nicht im Suchen nach Religion und Lebenssinn, nicht im Suchen nach einer neuen Lebensform, nein: uns ist gesagt: kehrt um zu Gott zu Gott und seinem Wort, lasst Euch hineinziehen in Gottes Geschichte und sein Handeln an uns.
So hören wir es durchweg in der Bibel, bei den Propheten und in den Psalmen, das ist ihre Botschaft – in Psalm 23: „der Herr ist mein Hirte … er erquickt meine Seele“ heißt es dort, und wörtlich, „er lässt meine Seele umkehren“, er lässt mich umkehren. So hat auch Jesus gepredigt, und so hat Paulus gepredigt, so hat Martin Luther gepredigt.
Umkehr zu Gott – das darf unsere tägliche Praxis sein, jeden Tag darfst Du Dich umkehren lassen.
Das war das Wort des reformatorischen Aufbruchs. Umkehr zu Gott. Dazu kann niemand anders uns aufrufen, als Gott selbst, wer könnte dafür einstehen, dass wir, ja die ganze Menschheit, nicht ins Leere laufen?


Hören wir dazu Paulus aus dem Brief an die Römer – Röm 12 (dem Predigttext, dem wir hier folgen, in eigener Übersetzung):


Aufgrund der barmherzigen Taten Gottes ermahne ich euch: Gebt Eure Leben hin, das sei Euer wahrer Gottesdienst. Stellt euch nicht dieser Weltzeit gleich. Lasst Euch eure Lebensform verändern, durch die radikale Erneuerung Eurer Wahrnehmung, und Eures Verstehens, damit ihr erfahren könnt, was Gottes für euch will.


Lasst Euch die Lebensform verändern durch eine neue Wahrnehmung, so spricht Paulus hier von Umkehr. Dies ist nicht eine Wende irgendwohin, in eine bessere Zukunft, keine Wende zu mehr Sicherheit, Freiheit, Leben oder wie auch immer die großen Ziele lauten – es ist die Umkehr hinein, in das was Gott für uns will, für jeden, dieser Gott, dieser bestimmte Gott, dessen barmherzige Taten wir erinnern.


Es ist die Umkehr hinein in Gottes Geschichte! Im Kern der biblischen Botschaft geht es immer um diese bestimmte Geschichte. Es ist Gottes Geschichte, die Gott mit seinem Volk eingegangen ist, die Geschichte, die er weiterverfolgt, unbeirrt, durch welche Geschichten und welche Weltgeschichte auch immer hindurch, durch welche von uns gemachten Geschichten hindurch auch immer.

 

Das ist die reformatorische Botschaft. Zu Recht hat es Stimmen gegeben, die gesagt haben, dass Luther und die Reformatoren nichts Anderes neu entdeckt haben, als Gott selbst in seinem Handeln, nichts sonst, keine neue Kirche, keine neue Weltsicht, kein neues Menschenbild, sondern es war eine neue Aufmerksamkeit auf das, was Gott will, was Gott für uns will und einzig auch von ihm nur zu erfahren ist.


Das ist die radikale Botschaft, die in der Reformation laut geworden ist. Diese Botschaft ist deshalb radikal ist, weil sich auf nichts berufen kann, auf keine Weltdeutung und keine Krisendiagnose, auf kein Menschenbild und kein Programm und vor allem keine Geschichtsdeutung.


Reformation radikal?
So haben wir, einige Freunde und Kollegen uns vor ein paar Jahren in Erwartung des Jahrestages des Thesenanschlags gefragt, ob wir denn Reformation heute eben so verstehen dürfen: als radikale Wende und Umkehr, auf Gottes Wort hin und hinein ins Herz und Zentrum eben dieser Botschaft, die ungeschützt neu und immer neu zu hören ist.


Die biblische Botschaft von der Umkehr zu Gott trifft immer – so erfahren wir es in den biblischen Geschichten – mitten ins Leben. Sie bricht ein wie das Morgenlicht in die Finsternis menschlichen Gefangenseins.


Alle Geschichten der Bibel sind so erzählt. So wenn wir die Geschichte vom Reichen Mann hören (wie in der Lesung aus Mk 10 heute). Der reiche Mann will Jesus nachfolgen, er will umkehren, aber er kann es nicht, weil er an seinem Reichtum hängt. So einfach und klar ist das. Und so hören wir Jesus sagen: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“.
Umkehr zu Gott – heißt Abkehr von den Göttern, denen wir dienen, allen voran dem Gott des Geldes, aber auch anderen Göttern – wie Luther gleichermaßen radikal zum 1. Gebot gesagt hat: woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott. Direkt hat Luther die Verehrung des Geldes angreifen können, ungeschützt – in seinen Schriften gegen den Wucher und den Zins, oder den unfairen Handel. Die Ethik, die darin enthalten ist, kann nicht irgendwie eingefordert werden, sondern ist nur zu gewinnen durch die Befreiung von dem Geld als Gott, dem Mammon, dem Menschen dienen, - und die Befreiung von den anderen Göttern und Vergottungen, die die biblische Botschaft alle anspricht: so die „Vergottung“ des Lebens gegen den Tod. So hören wir Jesus sagen: „Sorgt Euch nicht abgründig um Euer Leben …“ und Paulus spricht von der „Gerechtigkeit Gottes, von Gottes Treue, die einzig zum Leben führt“. – und nicht weniger spricht die Bibel von „Macht“ und Herrschaft, die Menschen sich anmaßen zu begründen, was immer mit Gewalt verbunden ist.


Die biblische Botschaft kündigt die Befreiung an von all diesen Göttern. Es ist die Botschaft von der Umkehr des Gottes-Volkes und unserer Umkehr zu dem Gott, der seine Geschichte mit seinem Volk und allen Menschen weiterführen will. Dafür steht seine Gerechtigkeit und dafür steht seine Barmherzigkeit. Gottes Barmherzigkeit, mit der er immer wieder eingegriffen hat, damit seine Geschichte mit uns nicht abreißt. So spricht auch Paulus von den barmherzigen Taten Gottes.


Gottes Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit, waren deshalb die Leitworte der reformatorischen Botschaft. „Gerechtigkeit Gottes“ – das meint seine verbindliche Treue zu seinem Volk und seinen Menschen, Gott ist gerecht, indem er in ungebrochener Treue zu seinem Wort steht und indem er mit seinem Wort sein Volk und uns Menschen zusammenhält.


Also so lautet die Botschaft: Umkehr in Gottes Gerechtigkeit, in seine Treue, in seine Geschichte mit seinem Volk und mit seinen Menschen allen, die er weiterführen will. Oft wird von der reformatorischen Botschaft gesagt: sie verkündige die „Rechtfertigung“ des Menschen, und es ginge darum, dass Gott uns annimmt, so wie wir sind. Nein, es ist mehr: Die Botschaft lautet, dass wir umkehren dürfen, dass wir Gottes Handeln uns gefallen lassen – ihn handeln lassen, seinem Willen folgen – und darin eben auch uns verändern und neu-werden lassen.


Gott handeln lassen: und dieses Handeln auch wirklich von Gott zu erfahren – das ist einfach zu fassen:


- nur Gott kann uns vergeben (so Psalm 130), nur Gott kann aufheben, was nicht
  wieder gut zu machen ist, das meint Vergebung von „Schuld“, nur Gott kann so
  versöhnen, und nur Gott kann solchen Frieden stiften.
- nur Gott kann uns eine Hoffnung geben über den Tod hinaus, das ist seine
  Gerechtigkeit, die er in der Auferstehung Jesu Chrisi realisiert hat, das ist die
  „Gerechtigkeit, die zum Leben führt“ (wie Paulus sagt), sodass wir nicht einen
  Kampf führen müssen für das Leben gegen den Tod, statt wahrzunehmen, was
  nach dem Willen Gottes uns „Gutes“ gegeben ist: das Gute einer Hoffnung über
  den Tod hinaus.


Lasst Euch die Wahrnehmung erneuern – damit Ihr Gottes Willen erfahren könnt. Wir sind nicht verdammt dazu, Schuld und alles in Geld umzurechnen, nicht verdammt dazu, dem Gott Mammon zu dienen – das heißt einer Macht zu dienen, die wir selbst nicht mehr regieren können, der wir ausgeliefert sind, wir sind nicht dazu verdammt dazu, einen Kampf auf Leben und Tod zu führen, der anderen die Luft die Lebensgrundlagen nimmt, der sie vertreibt und in die Flucht jagt.


„Folgt nicht den Gesetzen und Kräftespielen dieser Weltzeit“, passt Euch nicht an – so hören wir Paulus. Die Befreiung vom Mammon, die Befreiung von der Lebensbehauptung (und die Befreiung vom Willen zur Herrschaft und ihrer Sicherung, was immer zur Gewalt führt) – das ist die Umkehr zu Gott.


Unser ganzes Leben ist Umkehr so Luther – unser ganzes Leben darf Erfahrung dieser Befreiung sein. Nicht einfach „Freiheit“ wird hier verkündet, sondern Befreiung – und wenn Luther von der „Freiheit“ eines Christenmenschen spricht, dann von einer immer neuen Befreiung. Der Mensch, und so auch der Christenmensch ist nicht immer schon frei, sondern bestimmt und berufen dazu, von Gott befreit zu werden – jeden Tag neu. Also wenn schon eine These an die Kirchentür, dann diese. Wenn schon eine Botschaft an die Welt, dann diese.
Umkehr in Gottes Gerechtigkeit. Erst an diesem Punkt, beginnen wir zu verstehen, dass es zugleich und entscheidend die Umkehr zu unserem Nächsten ist.

- Es ist die Umkehr zu den Menschen, deren Leid und deren erfahrenes Unrecht
  nicht mehr gut zu machen ist.
- Es ist die Umkehr zu den Menschen, die vom Mammon beherrscht und
  unterdrückt werden, es ist die Umkehr zu den Menschen, denen ihre
  Lebensgrundlage genommen ist, weil andere auf ihre Lebensbehauptung fixiert
  sind. Umkehr zu den Menschen, die überall auf dem Globus vertrieben werden.


Es geht um diese Befreiung um des Nächsten willen. Es ist die Umkehr in die Geschichte hinein, die Gott mit uns Menschen eingegangen ist, indem er sich selbst direkt mit uns in Jesus Christus verbunden hat. Diese Geschichte und die Befreiung in diese Geschichte hinein verbindet uns Menschen, uns alle auf diesem Globus. Diese Geschichte ist es, in der wir uns mit allen Menschen zusammenfinden, diese Geschichte, die sich durch welche Weltgeschichte auch immer hindurch zieht.
Unsere Frage nach dem radikalen Verständnis von Reformation, die wir vor einigen Jahren begonnen haben zu verfolgen, hat uns jetzt, zuletzt auf einer großen Konferenz in Wittenberg vor zwei Wochen, mit Christen vom ganzen Globus zusammengeführt – von Indien, Indonesien, Südamerika, Afrika, Nordamerika. Worin sollten wir denn zusammenfinden? In einer gemeinsamen Angst, in einem moralischen Aufbruch, in einer gemeinsamen Geschichtsdeutung? Worin sollten wir uns denn zusammenfinden, anders als in dieser Botschaft von Gottes Geschichte, in der sich alle Menschen wiederfinden dürfen und in der sie zusammenfinden dürfen.
Diese Botschaft ist keine Utopie. Sie ist nicht das Versprechen einer besseren Welt, besserer Menschen und einer neuen universalen Moral, sondern sie zeigt eine neue Lebenspraxis: dass unser ganzes Leben eine Umkehr ist, eine tagtägliche Praxis. (Auf unserer Konferenz in Wittenberg haben wir viel davon gehört und davon wäre jetzt zu berichten). Wo diese Praxis geschieht, da ist die Welt eine andere, da ist das Reich Gottes nahegekommen, da sind wir in einer anderen Geschichte. Wo wir nicht in abgründiger Sorge um unser Leben befangen sind, ist die Welt eine andere, wo wir nicht anderen Göttern dienen, da ist die Welt eine andere, sie wird zu Gottes Welt.


So dürfen wir gewiss sein, „dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ (Röm 8,38). Amen.



Autor: Prof. em. Dr. Hans G. Ulrich