Evang. Hochschulgottesdienst am 4. November 2018


Predigttext: 2. Mose 15,22-27

22 Da ließ Mose Israel vom Schilfmeer aufbrechen, und sie zogen zur Wüste Schur. Und sie wanderten drei Tage in der Wüste und fanden kein Wasser.
23 Da kamen sie nach Mara; aber sie konnten das Wasser von Mara nicht trinken, denn es war sehr bitter. Daher nannte man den Ort Mara.
24 Da murrte das Volk wider Mose und sprach: Was sollen wir trinken?
25 Er schrie zu dem HERRN, und der HERR zeigte ihm ein Holz; das warf er ins Wasser, da wurde es süß. Dort gab er ihnen Gesetz und Recht und versuchte sie
26 und sprach: Wirst du der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchen und tun, was recht ist vor ihm, und merken auf seine Gebote und halten alle seine Gesetze, so will ich dir keine der Krankheiten auferlegen, die ich den Ägyptern auferlegt habe; denn ich bin der HERR, dein Arzt.
27 Und sie kamen nach Elim; da waren zwölf Wasserquellen und siebzig Palmbäume. Und sie lagerten sich dort am Wasser.

 

"Ich bin der Herr, dein Arzt" (2. Mose 15)

 

- Von der Heilkraft unseres Glaubens -

  

Unser drittes Kind, ein Mädchen, war ein Jahr alt, als wir den Ausschlag am Handgelenk sahen. Wir glaubten zunächst, wir müssten einfach mit ihr zum Arzt gehen. Er würde ihr eine Creme verschreiben, und die Sache wäre erledigt.“ So beginnt der Bericht einer jungen Engländerin, die zusammen mit ihrer Familie am Bodensee eine Heimat gefunden hatte. Damals ahnte sie noch nicht, was es bedeutet, ein Kind mit Neurodermitis zu haben.

 

Aber dann ging es los. Nicht lange, und der Körper des kleinen Mädchens war von einem juckenden Hautausschlag bedeckt. Über und über. Ein Passionsweg begann. Von einer Praxis zur nächsten, von einer Klinik zur anderen. Nichts half. Keine Cremes, keine Medikamente, keine Homöopathie, keine Nahrungsumstellung. Auf fast alle Lebensmittel reagierte das Kind allergisch. Auch die Binden, mit denen die Mutter Abend für Abend die kleinen Arme und Beine umwickelte, halfen nicht. Der schreckliche Juckreiz blieb. Weinen, kratzen, schreien. Verzweiflung. Es waren durchwachte Nächte und Tage voller Zorn und Erschöpfung. Zu viel für die Ehe, zu viel für das Familienleben.

 

In ihrer Not erinnert sich die Frau der Heilungsbewegung in ihrer englischen Heimat. Und sie tut etwas, von dem sie immer wieder gehört hatte. Sie legt ihrem Kind die Hände auf und betet über ihm. Und das Wunder geschieht. Schon in der zweiten Nacht schläft ihre Tochter durch. Zwar kommen die Schüber wieder, aber in immer größeren Abständen. Am wichtigsten: Der Teufelskreis aus schlaflosen Nächten und unausstehlichen Tagen ist unterbrochen. Nach neun Monaten ist ihr Kind symptomfrei. Es ist wie eine zweite Geburt.

 

Ich selbst durfte auf mehreren Studienreisen die Heilungsbewegung der Anglikanischen Kirche kennenlernen. Vieles fühlte sich damals, in den 80er Jahren, neu und aufregend an. Erst vor Kurzem hatte man diese „verlorene Dimension“ des Christentums wiederentdeckt. Hatte wieder entdeckt, dass ein Fünftel aller Evangelientexte von Heilungen berichtet. Entdeckt, dass Jesus den Seinen einen zweifachen Auftrag gegeben hatte, nämlich zu verkündigen und zu heilen. Die Jünger nahmen diesen Auftrag ernst: "Sie predigten und salbten viele Kranke mit Öl und machten sie gesund,“  heißt es im Markusevangelium (6,13).

 

Und heute? Dem Auftrag zur Verkündigung sind wir nachgekommen. Mit unendlich viel Sorgfalt und Mühe. Jeder Pfarrer, jede Pfarrerin weiß ein Lied davon zu singen. Und der Auftrag zum Heilen? Den Auftrag zu heilen haben wir komplett vergessen. Das Wort "Ich bin der Herr, dein Arzt" kommt in den Lesungen, in den Predigttexten unserer Kirche nicht vor. An keiner Stelle. Alle anderen Ich-bin-Worte der Bibel, Ich bin das Brot des Lebens, das Licht der Welt, der Gute Hirte, alle anderen Ich-bin-Worte werden in hohen Ehren gehalten. Jeder Konfirmandenjahrgang wird damit versorgt. Aber "Ich bin der Herr, dein Arzt"?? Vergessen.

 

Wobei das nicht ganz stimmt. Einer der großen katholischen Theologen des letzten Jahrhunderts, Eugen Biser, vor ein paar Jahren erst ist er gestorben, hat immer wieder darauf hingewiesen: Das Christentum ist eine therapeutische, eine heilende Religion. Nicht so sehr eine moralische, nicht so sehr eine ethische Religion. Im Kern ist es eine therapeutische Religion. Das heilende Moment steht in der Mitte unseres Glaubens. Der Heiland. Mit keinem anderen Ehrentitel sei Jesus so gut zu verstehen wie mit dem des Arztes.

 

Eine Wiederentdeckung also in England. Mich hat die Praxis der Anglikanischen Kirche sehr berührt. Healing services, Heilungsgottesdienste, Salbungsgottesdienste, Segnungs­gottesdienste. Die Geste des Handauflegens hat mich berührt. Einmal war ich bei einer Abendandacht dabei, in der ein Patient und sein Chirurg gekommen waren. Am nächsten Tag würden sie sich im Operationssaal wiedersehehen. An diesem Abend aber knieten sie beide vor dem Altar nieder. Der Pfarrer legte ihnen die Hände auf und betete für sie und segnete sie. Unvergesslich.

 

Menschen lassen sich die Hände auflegen vor einer Operation, in einer seelischen oder körperlichen Krise, oder bei einer anstehenden Lebensentscheidung. Ein Ausdruck des Glaubens, des Vertrauens, eine Geste der Hoffnung.

 

Natürlich war ich zunächst skeptisch. Was ist dran an der Behauptung, dass Menschen tatsächlich geheilt werden? Nicht nur von einer Neurodermitis? Vielleicht auch von einer Krebserkranknung? Oder darf man so nicht fragen?

 

Natürlich darf man so fragen antwortete mir ein englischer Kollege und sagte: „Ich war in meinem ersten Beruf Physiker, und mich selbst interessiert das leidenschaftlich. Wieso geschieht das manchmal, dass ein Tumor in sich zusammenfällt oder ein lebenswichtiges Organ wieder seine Aufgabe wahrnimmt? Von einer ´Spontanheilung´ sprechen die Doktors. Meine Erklärung,“ so mein Kollege, „heißt: Wenn wir singen, wenn wir die Hände auflegen und beten, wenn wir Gemeinschaft erfahren, wenn wir unser Leben wieder als sinnvoll erleben,  dann geschieht etwas mit unserem Immunsystem. Es wird stärker und kräftiger und lebt auf und kann seine Abwehraufgabe wieder erfüllen.“

 

Dabei geschieht es nicht immer so dramatisch. Manche Menschen fangen an, anders mit ihrer Krankheit umzugehen, gelassener vielleicht, versöhnter. Manche hören auf mit den ständigen Selbstquälereien – was hab´ ich denn getan?? Wo habe ich denn Schuld auf mich geladen??, und finden Frieden. Wieder andere nutzen die Zeit, die ihnen noch bleibt für etwas Sinnvolles, schreiben vielleicht ihre Lebensgeschichte auf, die ihnen auf einmal kostbar geworden ist, und von der sie ihren Kindern erzählen möchten. Etwas ist heil geworden.

 

Zweites Buch Mose, Kapitel 15: "Ich bin der Herr, dein Arzt". Eingebettet ist dieses Wort in eine Wüstengeschichte aus der Frühzeit Israels. Plagen, Krankheiten, Naturgewalten. Der bittere Geschmack, den das Leben kann. Dann nicht zu verzweifeln, nicht gleichgültig oder zynisch zu werden, sondern sich Hoffnung und Zuversicht zu bewahren, darum geht es. "Ich bin der Herr, dein Arzt". Dass die anglikanische Kirche dieses Wort wiedergefunden hat, ist ein Geschenk an  die Ökumene. Ein Geschenk, das dazu einlädt, herauszufinden, wie unser Glaube uns heilen kann. Unsere Seele, unseren Körper, unsere Strukturen, unsere Politik.

 

Wichtig scheint mir vor allem, dass wir heil werden wollen. Dass wir uns dafür entscheiden. Ein kleiner Schritt ist für mich das Heilungsgebet, das uns Anne Höfler, die Frau mit dem kranken Kind, hinterlassen hat. Es sind Worte des Vertrauens: „Möge die heilende Kraft Gottes durch mich fließen, mich reinigen, stärken, heilen, mich mit Liebe erfüllen, mit heilender Wärme und mit Licht, mich schützen und führen auf meinem Weg. Ich vertraue darauf, guter Gott, dass Du mich lieb hast und dass Du mich hörst.“

 

Vielleicht haben Sie Lust es auszuprobieren. Am Morgen, ehe es in den Tag hineingeht oder am Abend, wenn sich der Tag runden soll. Ganz schön, sich dabei die Hände aufzulegen. Auf dem Kopfraum, auf dem Herzraum, auf dem Bauchraum, wie auch immer.

 

Eines weiß ich: Es macht etwas mit mir, mit meiner Seele, meinem Körper, meiner Energie.  Es macht einen Unterschied und ich werde erfahren: Gott gut tut.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.  Amen



Autor: Pfarrer Waldemar Pisarski, Augsburg