Evangelischer Hochschulgottesdienst am 27. Januar 2019

Liebt eure Feinde – von Feindesliebe und Entfeindung


Predigt von Pfarrerin Prof. Johanna Haberer, Erlangen,

im Evangelischen Hochschulgottesdienst,

Spitalkirche Bayreuth, 27.1.2019

 

Predigttext Lukas 6 (Luther 2017)

 

Jesus sprach: 27 Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; 28 segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. 29 Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. 30 Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. 31 Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch! 32 Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. 33 Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. 34 Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen. 35 Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.

 

 

 

 

Liebe Schwestern, liebe Brüder, die Sie zu diesem Hochschulgottesdienst gekommen sind!

 

Heute vor 74 Jahren haben amerikanische Soldaten die Tore des Konzentrationslagers in Auschwitz geöffnet. Und sie haben einen Blick in die Hölle geworfen. Alles, was das Christentum und der Humanismus an einer Kultur des Respekts und der gegenseitigen Achtung, der Würde des Einzelnen und der menschlichen Verbundenheit in der Neuzeit geformt hatten, war hier über Bord gegangen. Der Mensch des Menschen Wolf? War es das? Menschen fabrikmäßig zu töten?

Nein, ein Wolf tötet kein Tier seiner eigenen Gattung. Nur der Mensch tötet und quält auf vielerlei Weise seine eigene Art.

Auschwitz – das war das vernichtende Ende eines geistigen Weges, der mit der Ausgrenzung anderer begann und mit der verbalen Demütigung und Erniedrigung anderer Menschen und mit dem Massenmord endete.

Die großen Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts hatten sich vom Christentum und vom Humanismus so weit entfernt, dass ein Weg zurück nicht mehr möglich war.

Manchmal denke ich, wie und womit haben wir Kinder dieses Landes es nur verdient, dass wir in Wohlstand und Frieden leben? Womit haben wir es nur verdient, dass jüdische Mitbürger wieder unter uns leben. Womit haben wir es nur verdient, dass uns so vergeben wurde?

Die Opfer der Nationalsozialisten – deren Enkel heute in Berlin und Bamberg und Bayreuth leben – haben mehr zur Entfeindung der Menschen und Völker getan, als wir das jemals fassen können.

Und da ist heute am Tag der Befreiung des schrecklichsten Vernichtungslagers der Weltgeschichte die sogenannte Feldrede des Lukas zu predigen, besser bekannt in der berühmteren Version des Evangelisten Matthäus. Dort heißt der Text „Die Bergpredigt“. Ob auf dem Berg oder auf dem Feld, wo immer Jesus diese Worte auch gesagt haben soll: Dieser Text kommt von anderswo her. Er klingt, als sei er nicht auf der Erde entstanden. Worte direkt aus dem Himmel von einem, der eine andere Welt vor seinen Augen hatte. Eine ganz andere Welt. Deren Bild malt er. Eine Welt, in der der Eigennutz und der Eigensinn, die Eigenliebe und das Eigenlob, die Eigenvorsorge und das Eigeninteresse hintangestellt wird und begrenzt. In der die Ichsucht und die Selbstbezogenheit der radikalen Kritik unterworfen werden. „No Deal“ ist die Botschaft. Das ganz normale „wie Du mir, so ich Dir“, „gibst Du mir was, geb` ich Dir was“ soll in der neuen Welt nicht mehr gelten. Das Leben in der neuen Welt ist keine Geschäftsbeziehung, sondern eine Liebesbeziehung der ganz anderen, der ganz neuen Art.

Dieser Text ist die äußerste Provokation für uns Hörer über die Jahrhunderte und die Jahrtausende. Und auch heute für die Predigerin. Man sollte ihn alleine stehen lassen und nichts mehr dazu sagen. Einfach schweigen vor der sanften Gewalt der Worte.

Oder: ihn immer wieder lesen. Dieser Text kann für sich alleine stehen.

Hören Sie noch einmal:

Jesus sprach: Ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch! Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.

 

Eine Predigt also über eine jahrtausendealte, für immer unvergessene Rede in zwei Versionen in unserem neuen Testament.

In seinem Film „Book of Eli“ beschwören die Regisseure und Brüder Hughes und der Hauptdarsteller Denzel Washington eine postapokalyptische Welt herauf. Die Welt nach dem finalen Atomkrieg. Eine atomar verseuchte Welt, die der darauf folgenden Klimakatastrophe zum Opfer fällt. Um sich die Augen nicht zu versengen, muss man permanent Brillen tragen.

Hier regiert das Recht der Stärkeren und die pure Gewalt. Das ist eine Welt, in der die Worte Jesu vergessen sind.

Mitten durch diese Welt geht ein Kämpfer, der unter dem Einsatz seines Lebens ein Buch retten will. Die jüdisch-christliche Bibel. Das Buch wird ihm schließlich abgejagt von einem Warlord, der sich mit diesem letzten heiligen Buch die Herrschaft über die Menschen verspricht. Denn mit der Religion kann man herrschen, denkt er.

Doch der Warlord wird enttäuscht. Er kann das nach brutalen Kämpfen erbeutete Buch gar nicht lesen: es ist in Blindenschrift geschrieben. Am Ende landet unser Bewahrer der letzten Bibel schwerverletzt auf einer Insel in einem Kloster, in dem Mönche die Weisheit der Welt in Büchern neu sammeln. Und der sterbende Mann diktiert nun aus dem Kopf die ganze Bibel. Er hat sie in den Jahren der Verzweiflung auswendig gelernt. Ein Schreiber sitzt neben ihm und hebt die Worte getreulich auf – Wort für Wort.

Wenn man diese Jesusrede liest, kann man verstehen, was die Filmemacher meinten, wenn sie sich vorstellten, die Worte der wichtigsten Rede Jesu würden vergessen in der Welt.

Um die atemberaubende Fallhöhe dieses Textes zu verstehen, ist es wohl besser, einmal von hinten anzufangen und zu fragen: Was wäre gewesen in dieser Welt, wenn diese Worte nie gesprochen worden wären, wenn es diesen Generalangriff auf unser gewöhnliches Sozialverhalten nie gegeben hätte.

Wir würden weiter Feinde „Feinde“ nennen und sie bekämpfen ohne Regeln.

Wer Feind und wer Freund ist, würde die Zugehörigkeit zur Rasse, zum Klan, zum Volk bestimmen. Wir würden uns in unserem Klankuschelverhalten mit denen, die genauso denken und fühlen wie wir, weiter wohlfühlen und würden die Welt in Hier-Drinnen und Da-Draußen teilen.

Wir würden? Ja. Das trifft uns ins Mark. Was heißt hier, wir würden?

Wir tun das immer wieder. Dieser Text ist der Generalangriff auf uns als Herdentiere: Familie first, Klan first, Nation first, meine Rasse first, meine soziale Gruppe first. Und unser Leben als Deal: Ich gebe dem, der mir gibt, und ich helfe der, die mir hilft.

Dass Jesus uns auffordert, alle diese Wohlfühlzonen zu verlassen und unserem Herdentrieb zu widerstehen, ist eine äußerste Provokation. Das trifft uns ins Mark.

Aber das heißt auch, dass er uns zutraut, Menschen zu werden. Wirklich Menschen zu werden. Menschliche, denkende und fühlende Wesen, die das Menschsein des anderen Menschen – und mag er noch so fremd sein –, unbedingt und unter allen Umständen anerkennt.

Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.

 

Stell Dir vor, diese Sätze wären nicht in der Welt: Wenn Jesus sie nicht schon vor 2000 Jahren gesagt hätte, man müsste sie heute erfinden.

Fangen wir doch einfach mal bei uns an: bei den Christen.

In meiner Freundesgruppe auf Facebook sind viele Pfarrerinnen und Theologen, fast alles Christen, in jedem Fall lauter Menschen, die guten Willens sind, Menschen, die auf die Straße gehen für Menschenrechte und Geflüchtete, die das bunte Deutschland feiern und herzlich dafür sind, dass wir gut umgehen mit Menschen, die anders sind. Aber diese Friedensfreunde können sich mit einer unheimlichen Wut an dem amerikanischen Präsidenten abarbeiten und allen, die so denken wie er. Und die Art der Aggression – und das fällt auf – die Art der Aggression, die Sprache, der Ton unterscheidet sich in seiner verächtlichen Selbstgerechtigkeit nur wenig von denen, die sich wiederum in ihren hasserfüllten Zirkeln der rechtspopulistischen Vogelschissperspektive bewegen.

Das Aufbrechen der Blasen, das ist das jesuanische Programm, das Entfeinden, die Feier der Menschenfreundlichkeit Gottes, dabei eine klare Kante zu zeigen, aber den anderen als Menschen zu sehen.

 

Denn: Wenn die legendäre Rede Jesu eines nicht ist, dann ist sie nicht schwärmerisch und nicht romantisch. Wenn da von der Feindesliebe die Rede ist, dann ist nicht ein schwärmerisches Gefühl gemeint. Nein. Da ist ein ganz eigenes Konzept angesprochen, die Welt zu verstehen, nämlich das: in dem anderen Menschen – ganz egal, ob er mir nahe steht oder ganz ganz fern – ein Stück der Seele zu erkennen, die Gott uns geschenkt hat. Wir Menschen erkennen den anderen als Gottes Kind und Gabe. Und wenn er schwarze Springerstiefel trägt, fettige Haare hat und aus dem Mund riecht. Wenn er Heroinstiche im Arm hat oder von zwei scharfen Hunden beschützt wird. Wenn die alte Frau sich nicht mehr äußern kann und sich nicht mehr orientieren. Wenn das Kind niemals sprechen lernt und niemals rechnen. Oder auch die ganz alltäglichen Bosheiten, mit denen wir untereinander uns die Langeweile vertreiben.....Geschenkt. Das Konzept heißt: Wir versuchen die Seele des anderen zu erkennen, dieses Licht Gottes in jedem Menschen.

 

Denn so argumentiert Jesus, der Gotteskenner: Wir, die wir getauft sind, wir leben aus einem Überfluss, der unaussprechlich ist. In einer inneren Fülle, die uns in die Lage versetzt, großherzig und großmütig und großzügig zu sein. Denn der Fluss unserer Kraft kommt nicht aus der Bestätigung der anderen Menschen, nicht aus dem kleinkrämerischen Rechnen, wie ich Dir, so Du mir. Jesus ist der Überzeugung, wer aus der Gottesliebe und der Gottespower heraus lebt, der ist in Liebe getaucht wie Obelix in den Zaubertrank. Bei der Taufe sind wir in den Zaubertrank der Liebe gefallen und der beschenkt uns mit Überfluss und lässt das zwischenmenschliche Rechnen überflüssig werden.

Wir sind mit unserer Taufe so tief in Liebe eingetaucht und eingewebt worden, dass diese Liebe uns davor beschützt, Grenzen zu ziehen und andere herabzuwürdigen. Wir sind in die Liebe geplumpst.

Und da wird unser Feldredner Jesus richtig üppig in der sonst so zurückhaltenden Sprache, wenn er die Fülle der Gnade und der Liebe beschreibt, die auf uns einstürzt ein Leben lang, wenn wir nur mit dem Rechnen aufhören:

Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.

 

Das Maß, mit dem wir gemessen werden, ist eigentlich unermesslich. Wenn wir in dieser Kraft leben, dann hat alles Messen ein Ende. Wenn wir aber in der Logik des Messens und Rechnens bleiben, so Jesus, dann werden wir in dieser Logik erstarren. In dieser Logik entsteht keine Fülle und keine Gnade, keine Größe und keine Liebe. Keine schöpferischen Kräfte, kein Humor, kein Lachen, kein Frieden und vor allem: keine Vergebung.

Die Fülle und die Gnade, die Großmut und das Lachen, die Kreativität, der Humor, die Phantasie, wahre Freundschaft, wahre Entfeindung und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft: Das alles entsteht, wenn wir zu rechnen aufhören.

Diese Worte sind vom Himmel hergekommen, liebe Schwestern und Brüder, was aber ist damit auf Erden...?

Diese Frage füllt Bibliotheken und treibt jeden um, der sich mit dem Liebeskonzept des Jesus beschäftigt. Die einen sagen, das ist für die Urgemeinde gesagt und aufgeschrieben, die dachte, Christus kommt schon gleich wieder und erlöst diese Erde. Also wir versuchen so zu leben, nur für kurze Zeit.

Auf die Dauer kann keine Gemeinschaft ein solches Konzept leben. Andere sagen, das ist für besonders entschiedene Christen relevant, für Klöster oder so. Für Menschen also, die ihr normales Leben mit Klan, Familie, Freunden aufgeben und nur sich selbst verantwortlich sind. Mit dieser Rede von der Feindesliebe kann man keine Politik machen, soll Helmut Schmidt gesagt haben. Und auf die visionären Entwürfe seines Konkurrenten Willi Brandt, der von Mitte der sechziger Jahre von einem entfeindeten Europa träumte – einschließlich Russland –, soll er geantwortet haben: „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen.“ Ein Bonmot, das Schmidt ein Leben lang begleiten sollte und ihn immer daran erinnerte, dass er Unrecht hatte. Ohne Visionen, keine Bewegung.

Wie soll einer diese Jesusvisionen ernst nehmen, ohne sich selbst völlig aufzugeben? Der Selbstaufgabe, liebe Schwestern und Brüder, ist durch das Doppelgebot der Liebe eine Grenze gesetzt. Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. In diesem Satz ist ein gerüttelt Maß an Selbstvorsorge enthalten: Und doch können wir die Rede Jesu von der Ganz-anderen-Welt in unser Leben einbauen, indem wir sie als Himmelsregel erkennen, mit der wir ein Stück Himmel auf Erden holen könnten. Diese Rede ertappt uns bei unserem kleinkrämerischen Lebensentwurf, diese Rede überführt uns bei den kleinkarierten Deals, die wir immer machen. Diese Rede gibt uns die Energie, aus der Fülle der großen Liebe Gottes zu reden und zu handeln. Und: uns selbst immer wieder zu überwinden; herauszutreten aus unserer kleinkrämerischen Blase. Diese Rede gibt uns die Kraft zum Widerstand gegenüber jenen, die uns in eine Logik der Abgrenzung führen wollen, die der erste Schritt auf dem Weg in die Hölle ist.

Obelixe der Liebe dürfen wir sein, mit der Taufe in den Liebestrank Gottes gefallen. Meinen Sie, wir könnten das immer wieder versuchen? Dann sagen Sie bitte „Amen“.



Autor: Pfarrerin Prof. Johanna Haberer, Erlangen