Der grünende Feigenbaum

Lukas 21,25-33


 

I. Erhobenen Hauptes

 

Liebe Gemeinde!


Um den Kopf heben zu können, muss man ein bisschen Grün sehen können.

In der Geschichte „Oskar und die Dame in Rosa“ von Eric-Emmanuel Schmitt¹ geht es um einen totkranken Junge Namens Oskar. Er schreibt Briefe an den lieben Gott:

„Das Krankenhaus hier ist echt toll, mit massenhaft lustigen und gutgelaunten Erwachsenen, die laut herumquasseln, voll mit Spielzeug und Damen in rosa Kitteln, die mit den Kindern spielen wollen, (…) kurz, das Krankenhaus ist spitze, wenn man ein Kranker ist, der Freude macht.“¹

Eigentlich ist es ja schön, wenn es ein Krankenhaus gibt, in dem die Leute mit erhobenem Haupt herum laufen. Aber der kleine Oskar fährt in seinem Brief fort:

 

II. Mit gesenktem Kopf

 

„Ich, ich mach keine Freude mehr. Seit meiner Knochenmarktransplantation merke ich, dass ich keine Freude mehr mache. Wenn mich Doktor Düsseldorf morgens untersucht, tut er es nicht mehr mit ganzem Herzen, ich enttäusche ihn. Er schaut mich ohne was zu sagen an, als ob ich einen Fehler gemacht hätte. Obwohl ich mir bei der Operation jede Menge Mühe gegeben habe. Ich bin super artig gewesen, ich habe die Betäubung über mich ergehen lassen, ich habe, ohne zu mucksen, die Schmerzen ertragen, ich habe alle Medikamente genommen. An manchen Tagen habe ich Lust, ihn anzubrüllen, ihm zu sagen, dass vielleicht er, der Doktor Düsseldorf mit seinen schwarzen Augenbrauen, die Operation vermasselt hat. Aber er sieht so unglücklich aus, dass mir die Schimpferei im Hals steckenbleibt. Und je mehr Doktor Düsseldorf mit traurigen Augen schweigt, desto mehr fühle ich mich schuldig. Ich habe verstanden, dass ich ein schlechter Kranker bin, ein Kranker, der einem den glauben daran nimmt, dass die Medizin etwas ganz Tolles ist.

 

   „Erhebt eure Häupter“ fordert der Wochenspruch auf. Die kleine Geschichte aus dem Krankenhausalltag einer Kinderklinik zeigt, wie schwer es ist, den Kopf zu heben. Der Wochenspruch stammt aus der kleinen Apokalypse des Lukasevangeliums Kap. 21, 25-33, die uns aufschauen helfen kann:

 

(25) Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, (26) und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. (27) Und alsdann  werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit.

(28) Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter,  weil sich eure Erlösung naht.

(29) Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: (30) wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass jetzt der Sommer nahe ist.

(31) So auch ihr: wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist.

(32)Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht. (33) Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte vergehen nicht.

 

III. Mit dem Kopf durch die Wand oder mit hängendem Kopf

 

„Erhebt eure Häupter!“ Das klingt so nach dem Fränkischen „Kopf hoch, werd scho wieder!“ Mit kommt da eine Postkarte in den Sinn: Man sah auf einer flachen Ebene eine Figur vorbeilaufen. Das Männchen hatte keinen Kopf. Stattdessen trug es einen mit Gas gefüllten Luftballon mit Gesicht darauf gemalt. Der Ballon schwebte ohne Hals dort, wo eigentlich der Kopf gewesen wäre. Unter der Karikatur stand in Großbuchstaben: „KOPF HOCH!“

Wenn man niedergedrückt ist, kann man ja auf den Kommentar solcher Leute gut und gern verzichten, die einem mit einem flotten Spruch wieder Beine machen wollen und doch den Ernst der Lage gar nicht an sich heran lassen wollen. Es ist schwer, jemanden zu finden, der die Ohnmacht gegenüber apokalyptischen Zuständen aushält, wo man nur noch mit hängendem Kopf dasitzt oder wo es keinen Sinn macht, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen. Es gibt kaum jemanden, der den Ort erträgt, wo die Kräfte des Himmels ins Wanken kommen, wie es im Predigttext heißt; mit anderen Worten, wo sich kein gnädiger Gott im höchst eigenen Leben finden lässt, wo der Atheismus Wurzeln schlagen kann.

Den kleinen Oskar enttäuschen da seine nächsten Angehörigen. Ein Freund hatte ihn aufmerksam gemacht, dass seine Eltern gekommen wären. Nur ließen sie sich bei ihm nicht blicken. Also schlich Oskar voller Vorahnung zum Sprechzimmer von Doktor Düsseldorf. „Ich habe gehört, was ich nicht hören sollte. Meine Mutter hat geschluchzt, Doktor Düsseldorf wiederholte: >Wir haben alles versucht, glauben Sie mir, wir haben alles versucht. (…) Wollen Sie ihn nicht in die Arme nehmen?< >Dazu fehlt mir der Mut<, sagte meine Mutter. >Er soll uns besser nicht in diesem Zustand sehen<, hat mein Vater hinzugefügt. (…) Zwei Feiglinge, die mich für einen Feigling halten!“¹ Urteilte der kleine Oskar über seine Eltern.

Ja, so ist das, dass wir manchmal als Betroffene noch weniger helfen können als Außenstehende. Der Evangelist Lukas mit seiner kleinen Apokalypse ist so ein Außenstehender.

 

IV. Das Gleichnis lässt aufschauen

 

   Gerät die Ordnung der Welt ins Wanken, erhebt sich das Meer und greift die Angst um sich, da sollen wir den Feigenbaum sehen, meint der Evangelist. Der Feigenbaum ist einer der wenigen Bäume im Mittelmeerraum, der im Winter sein Laub fallen lässt. Wenn alle anderen Pflanzen im satten grün weiterstrahlen, steht er nackt da. Seine Äste ragen ohne Blätter in den Himmel. Das Gleichnis steht kurz vor der Passionsgeschichte, vor Jesu Passion, aber auch vor unserer Passion. - Wenn der Feigenbaum ausschlägt, dann weiß jeder Südländer, es wird Frühling, es wird Sommer. Das Überraschende an unserem Gleichnis ist, dass unser Blick beim Zusammenbruch der Dinge gar nicht auf die Katastrophe gelenkt wird, sondern auf die Vorboten von etwas Schönem wie den Sommer. Das Gleichnis lässt aufschauen, auf den schauen, der Folter und Tod nicht gescheut hat und einen Weg durch den Tod gezeigt hat. Mitten in unserer Schuld, wie bei Oskars Eltern, mitten in dem Schmerz wie beim kleinen Oskar, will sich uns das Blattwerk des Feigenbaums zeigen. Der echte König von den Wolken, der himmlische König sagt sich an. Er will auch dieses Jahr wieder zu uns kommen, in unsere  Welt, in unser Land, in unsere Stadt, in unsere Familie und in unser Herz. Als Kind in der Krippe will er Einzug halten. Damit wir das Leben mit ihm noch einmal neu anfangen, neu buchstabieren lernen. Manches wird einstürzen, um es mit dem Predigttext zu sagen: Himmel und Erde werden vergehen, aber Jesu Wort des Heils und der Erlösung vergeht nicht. – In der Geschichte vom kleinen Oskar ist es eine Dame in Rosa, die den totkranken Jungen in die Kapelle des Krankenhauses bringt und mit ihm über den Gekreuzigten spricht.

 

V. Eine „Aufschaugeschichte“

 

   Das Gleichnis vom grünenden Feigenbaum, der noch in der Kühle der Winterluft Blätter treibt, lässt uns aufschauen und hoffen. So eine „Aufschaugeschichte“ legt uns Eric-Emanuel Schmitt mit seinem kleinen Oskar ans Herz und spricht damit zugleich die Hoffnung des christlichen Advents aus. Er lässt den kleinen Oskar schreiben:

>Doktor Düsseldorf kam (…). Mit der Miene eines geprügelten Hundes schaute er mich unter seinen buschigen schwarzen Augenbrauen bedeutungsvoll an. Ich habe gefragt: „Kämmen Sie sich eigentlich die Augenbrauen, Doktor Düsseldorf?“ Er sah sich überrascht um, (…) ob er wohl richtig verstanden hätte. Schließlich sagte er mit belegter Stimme: „Ja.“

„Machen Sie doch nicht so ein Gesicht, Doktor Düsseldorf. Hören Sie, ich will ganz offen mit Ihnen reden; ich war immer sehr gewissenhaft beim Schlucken meiner Pillen, und Sie waren immer sehr korrekt beim Behandeln meiner Krankheit. Hören Sie also auf, so schuldbewusst zu gucken. Es ist nicht Ihre Schuld, wenn Sie den Leuten schlechte Nachrichten überbringen müssen, Krankheiten mit lateinischen Namen, die nicht zu heilen sind. Sie müssen sich entspannen. Zur Ruhe kommen. Sie sind nicht Gottvater. Sie können nicht über die Natur bestimmen. Sie sind nur eine Art Mechaniker. Sie müssen mal loslassen, Doktor Düsseldorf, locker werden und sich selbst nicht so wichtig nehmen, sonst werden Sie diesen Beruf nicht lange ausüben können. Na, schauen Sie sich doch mal Ihr Gesicht an.“

Denn beim Zuhören hatte Doktor Düsseldorf den Mund so weit aufgesperrt, als würde er ein Ei verschlucken. Dann lächelte er, ein sanftes Lächeln, und er gab mir einen Kuss. „Du hast Recht, Oskar. Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast.“

„Nicht der Rede wert, Doktor. Stets zu Ihren Diensten. Kommen Sie vorbei, wann immer Sie wollen.

So, lieber Gott.< endet dann der Brief des kleinen Oskars >Aber auf Dich, auf Deinen Besuch warte ich noch immer. Komm. Sei nicht so schüchtern. Komm, auch wenn ich im Moment jede Menge Besuch habe. Es würde mich wirklich freuen. Bis morgen, Küsschen. Oskar

Die Stimme des Jungen spricht die Sehnsucht derer aus, die von Herzen erschöpft sind, auf Erlösung hoffen, weil sie das erste Grün sehen: Komm, Herr Jesus, komme bald.

Amen.

Und der Friede Gottes bewahre unsere Herzen und Sinne in dem Krippenkind, Christus Jesus. Amen.

 

 

1 Zitate aus: Schmitt, Eric-Emmanuel, Oskar und die Dame in Rosa, Zürich 2003, S. 10f., 26f., 63-68, 94-96.

 

 



Autor: Martin Kleineidam