Güte und Gerechtigkeit - Arbeitsmarkt und Reich Gottes

Matthäus 20,1-16


Liebe Gemeinde,

 

I. Maschinerie der Gerechtigkeit

 

wunderbares entsteht, wenn Gerechtigkeit und Güte zueinander finden, so auch in der Geschichte von den Arbeitern im Weinberg. Die Situation, wie sie Matthäus im Reich-Gottes-Gleichnis beschreibt, ist vielen Arbeitssuchenden und denen, die um ihre Arbeit bangen, bekannt. Man steht auf dem freien Arbeitsmarkt und hofft, ein Arbeitgeber wird einen brauchen können. Manche warten lange, machen eine Fort- und Weiterbildung nach der anderen. Doch die Ergebnisse fragt niemand ab. In dem Satz der zuletzt eingestellten offenbart sich die ganze Dramatik der Langzeitarbeitslosen: Es hat uns niemand eingestellt. In der elften Stunde, das meint 17 Uhr, kann man dann für eine Stunde Arbeit nach leistungsgerechter Entlohnung nur noch einen Hungerlohn erwarten. Es reicht vielleicht gerade noch dafür, die Kinder nicht hungern zu lassen.

Die Maschine der Gerechtigkeit lernt man im Leben bald kennen. Freitag in einer Woche wird die Maschinerie der Gerechtigkeit wieder zuschlagen. Im Schatten des Arbeitsmarkts bekommen viele Schülerinnen und Schüler ihre Zwischenzeugnisse. Die einen freuen sich schon, dass ihre Arbeit mit guten bis sehr guten Bewertungen belohnt wird. Andere hingegen haben Angst, wenn es zur Vergabe der Noten kommt. Wer bringt schon gerne ein schlechtes Zeugnis mit nach Hause? Was werden Vater oder Mutter dazu sagen: Mathe 5, Deutsch 5, Physik 6 und Geschichte 5; darunter die Bemerkung: Versetzung sehr gefährdet.

 

II. Von soft skills zu soft "kills"

 

„Jeder, der einen Job hat, ist zurzeit ein potenzieller Rausflieger.“ Schrieb vor ein paar Jahren ein Management-Trainer. So genannte soft skills, auf Deutsch: weiche Fähigkeiten (wie soziales Verhalten, Redegewandtheit, Kontaktstärke, Selbstorganisation, Belastbarkeit, Leistungsbereitschaft, Konfliktlösungs- und Teamfähigkeit) bekommen bei einer hohen Anzahl von Konkurrenten stärkeres Gewicht neben dem reinen fachlichen Können und Wissen. Das Beobachtungsraster der Vorgesetzten ist streng, freilich stets mit freundlichem Gebaren. Wie leicht fällt jemand durch das Netz menschlicher Beziehungen, weil die Anforderungen immer höher, die soziale Sicherung gleichzeitig immer weitmaschiger werden.

   Wenn ein Schüler einen Elternteil durch einen tödlichen Unfall verloren hat, kann das auch Auswirkungen auf seine schulischen Leistungen haben. Welcher Lehrer, welche Lehrerin lässt das in die Bewertungssysteme mit einfließen? Wenn eine Scheidung eine Familie auseinander reißt,  welchen Chef, welche Chefin interessiert das noch?

Eine Gesellschaft, die auf dem Konkurrenzmodell aufbaut, in der allein die Leistungsgerechtigkeit ein Maßstab für die Entlohnung bildet, werden auffällige Personen auf ein Abstellgleis geschoben. Sie landen auf der Warteliste. Die Soft skills werden oftmals zu soft "kills", zu weichen sozialen Tötungen von Mitmenschen. Angesichts dieser Leistungsorientierung merken die Opfer oft gar nicht, dass diese formalistische Maschinerie der Gerechtigkeit kaum mehr menschliche Schwächen, Unzulänglichkeiten oder Schicksale duldet. Sie sehen es als ihr eigenes Versagen an.

 

III. Neid bemächtigt sich der Gerechtigkeit

 

Schauen wir einmal auf die andere Seite des zwanghaften Systems, in dem der beste, arbeitswilligste besonders entlohnt wird. Da sind die, die zu Tagesbeginn um 6 Uhr morgens eingestellt werden. Sie sind sich mit dem Weinbergbesitzer um einen 1 Silbergroschen (=16 As/römische Bronzemünzen) einig geworden. Offensichtlich die angemessene Bezahlung für einen Tagelöhner. Am Abend kommt es zum Konflikt zwischen den Langzeitarbeitern und dem Weinbergbesitzer, als er zuerst die zuletzt dazugekommen mit dem gleichen Lohn eines Denars auszahlt. Man kann sich vorstellen, wie sie sich über die Ungerechtigkeit beklagt haben. Und auch wir fragen: „So soll es also im Gottesreich zugehen! Wir plagen uns den ganzen Tag ab in einer Gluthitze und die, die dazugekommen sind, als die Schatten länger geworden sind, die Kurzarbeiter sollen den gleich Lohn erhalten? Wo gibt es denn so etwas. Das ist eine katastrophale Lohnauszahlung. Man ist ja schön dumm, dass man sich den ganzen Tag abrackert.“ Sie appellieren an den Gleichheitssatz: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Landzeitarbeiter werden aber mit den Kurzarbeitern gleichgestellt. Die Langzeitarbeiter aber müssten mehr Geld bekommen, weil sie eben länger als die Kurzzeitarbeiter gearbeitet haben. Das wäre leistungsgerecht. Das wäre den Gesetzen des Arbeitsmarktes entsprechend. Nur haben die Langzeitarbeiter vergessen, dass sie unter anderen Bedingungen den Arbeitstag begonnen hatten: Ein Denar war als Lohn vereinbart worden. Der gelbe Neid hat ihnen ein Schnippchen geschlagen. Dieser Neid gebiert innerhalb eines Tages, ja weniger Minuten eine Gerechtigkeit, die einer anderen Perspektive die Chance verbaut, auf den Plan zu treten.

 

IV. Güte gesellt sich zur Gerechtigkeit – Neben Leistungsgerechtigkeit die Bedarfsgerechtigkeit zur Geltung bringen

 

Der Arbeitgeber unserer Geschichte hingegen ist gerecht auch in formaler Sicht. Er lässt den Langzeitarbeitern den mit ihnen ausgemachten Lohn auszahlen. Das hält auch vor einem Arbeitsgericht stand. Nun sie bekommen keinen Bonus für lange und schweißtreibende Arbeit. Das ist richtig. Statt einer Sondergratifikation für die Ersten erhalten nun die Kurzzeitarbeiter den gleichen Lohn. Warum? Hatte der Weinbergbesitzer noch anderes im Blick als Leistung, soft skills und Selektionskriterien? Der reiche Eigentümer tritt anfangs auch den Langzeitarbeitslosen als ein strenger Arbeitgeber auf: Wie ein Feldwebel schwadroniert er wenig einfühlsam an den letzten Arbeitssuchenden vorbei: „Was steht ihr so faul herum?“ Das sagt er ausgerechnet zu denen, die den ganzen Tag auf Arbeit gehofft hatten; denn auch die Kurzzeitarbeiter müssen daheim eine Familie ernähren. Erst am Ende des Tages, nachdem jeder seine Arbeitsleistung erbracht hat, schimmert neben dem Leistungsgedanken des Weinbergbesitzers auch seine Güte auf. Neben die formale Gerechtigkeit tritt eben auch Barmherzigkeit, die Einsicht in die Not der Menschen. Damit hat er die Kurzzeitarbeiter für sich als Freunde gewonnen. Aber – und das macht die Geschichte erst so liebenswert – er eröffnet auch den Neidern einen Weg zu ihm. Er beschimpft die „Moserer“ mit ihrer engherzigen Gerechtigkeitsvorstellung nicht als störende Querulanten. „Ihr undankbaren Nörgler! Euch stelle ich nicht mehr ein!“ Nein, das sagt er nicht. „Mein Freund“, so redet er einen von den Neidern an. „Warum schaust du so scheel drein, weil ich so gütig bin.“ Du bist mein Freund, ein Freund der Gerechtigkeit. - Gerechtigkeit soll schon auch im Himmelreich herrschen. - Aber es fehlt dir noch ein Stück, was die Vollkommenheit des Reiches Gottes ausmacht: Güte! Es ist schon ein pädagogisches Lehrstück, liebe Gemeinde, das uns Matthäus hier erzählt. Zum Eklat zwischen den Langzeitarbeitern und dem Weinbergbesitzern kommt es doch nur, weil er mit der Auszahlung bei letzten angefangen hat. Die Geschichte vom reichen Weinbauern wird uns erzählt, damit wir unseren Blick weiten, nicht nur die formale Leistungsgerechtigkeit für unsere Bewertungen heranzuziehen, sondern mit einem liebevollen Auge, die Bedürftigkeit der Menschen zu sehen. Es geht eben auch um Bedarfsgerechtigkeit mit liebevollem Augenmaß.

 

V. Wunderbares im Einklang von Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit

 

Beides, Gerechtigkeit und Güte, sind zwischen uns Menschen gefragt. – Ich denke da an den Film „Das Boot“ von Wolfgang Petersen. In einem Wasserbombenangriff verliert ein altgedienter Maschnist eines Deutschen U-Boots im 2. Weltkrieg die Nerven und verlässt seinen Posten im Maschinenraum. Der Kapitän des Unterseebootes will ihn nach mehrmaligen vergeblichen Aufforderungen in dieser brenzligen Lage nach Kriegsrecht wegen Befehlsverweigerung erschießen. Seine gehorsamen Kameraden – anders übrigens als die Langzeitarbeiter im Weinberg – schützen ihn vor der Strafe bei Fahnenflucht. Nach dem Angriff will sich der Maschinist beim Alten entschuldigen, um so auch dem Kriegsgericht zu entgehen. Der lässt sich erst einmal die Zahl der Feindfahrten aufzählen, damit der Leistungsgerechtigkeit genüge getan ist. Nach erneuter Bitte dessen, der weniger Gehorsam gezeigt hatte als seine Kammeraden, schickt der Kapitän den Maschinist wieder an seinen Platz. Vom Gericht nach Kriegsrecht war keine Rede mehr. Der Kapitän seinerseits hatte bis zum Ende der Fahrt, die freilich unter dem dunklen Schatten des Dritten Reichs geschah, einen treuen und äußerst zuverlässigen, arbeitswilligen Mann im Motorraum. - Gerechtigkeit und Güte findet sich immer wieder auch in unseren familiären, schulischen, betrieblichen Verhältnissen. Ich erlebe das zumindest immer wieder an meiner Schule, wie jüngst bei dem Sturz eines Schülers des Nachts vom Schuldach. Dass er bis heute im Halbkoma liegt, finden die einen als gerechte Strafe. „G´scheit recht! Was macht er auch nachts auf einer Schule? Und wenn man nach den näheren Umständen des Unfalls fragt, findet man wenig Entschuldigendes für sein Verhalten. Andere hingegen besuchen den verunglückten Schüler und versuchen, ihn wieder in einen Wachzustand zu bekommen. Die Schulleitung räumte auch prüfungsfreie Zeiten für die Kollegstufe ein und kehrte nicht zum Tagesgeschäft einfach zurück. Wenn man genau wahrnimmt, sind da auch keine Formalisten in der Schulleitung tätig, sondern Menschen, die sich mit dem Mann von der Bergpredigt beschäftigen und versuchen, Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit in Einklang zu bringen. Denn in Jesus kommt eine Gerechtigkeit und Weite des Herzens so zur Sprache, dass immer wieder Wunderbares in Erscheinung tritt: Das Reich Gottes. Amen.

 

Und der Friede Gottes bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.



Autor: Martin Kleineidam