"Gott, sei mir Sünder gnädig."

Lukas 18, 9-14 (OP, 1. Reihe)


Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:  Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

 

Liebe Gemeinde,

bis hinein in die Liturgie unseres Gottesdienstes hat er es geschafft, jedenfalls in die lutherische; aber das weltweit. Früher wurde er sogar noch genannt im Sündenbekenntnis, ziemlich am Anfang des Gottesdienstes. Es geht um den Zöllner aus dem Lukasevangelium und sein Stoßgebet: Gott, sei mir Sünder gnädig. In diesem Satz bündelt sich alles, was vorher bekannt und gebeichtet wurde. In manchen Gemeinden wird dieser Satz von allen mitgesprochen, in den meisten anderen ist er das Signal, dass jetzt gemeinsam gesprochen wird: „Der allmächtige Gott erbarme sich unser. Er vergebe uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben.“ So weit hat es dieser Zöllner gebracht, dass Millionen Christen seinen Satz wiederholen, jeden Sonntag und Feiertag, auf der ganzen Welt. Man könnte sagen: dass sich die Christen mit ihm identifizieren. Das hat sonst niemand geschafft.

Damals, als Jesus ihn in sein Gleichnis hineinzieht, hätte sich niemand mit ihm identifiziert. Ein Zolleinnehmer war das Musterbeispiel für eine verlorene, verkrachte Existenz. Das lernt man heute im Religions- und Konfirmandenunterricht, besonders am Beispiel des Zachäus; dass das natürlich nichts zu tun hat mit unseren heutigen Zöllner, den Beamten vom Zoll oder Grenzschutz. Sie sind durch Beamteneid verpflichtet, die Gesetze besonders genau zu nehmen, sich nicht bestechen zu lassen, nicht in die eigene Tasche zu wirtschaften. Die Zöllner damals waren so ziemlich das Gegenteil. Die hohe Pacht für die Zollstation, die sie an die Römer zahlen mussten, die musste ja wieder herein kommen. So wurde der Zöllner zum Blutsauger und Halsabschneider, der von den Bauern und Händlern heraus presste, was er nur konnte. Dazu kam der religiöse Aspekt. Wer mit den römischen Besatzern kollaborierte, galt nicht nur als Verräter, sondern exkommunizierte sich auch aus der Gemeinde. Dass früher katholische Frauen, die einen evangelischen Mann heirateten und das noch in der evangelischen Kirche, von den heiligen Sakramenten ausgeschlossen wurden, klingt wie ein Nachhall dieses Ausschlusses. Der Zöllner war also doppelt geächtet: sozial und religiös.

Man wundert sich ja, dass er überhaupt noch hingeht. Bei uns sind die Zeiten längst vorbei, dass sich jemand noch diese Strafmaßnahmen gefallen ließe, die man früher denen auferlegt hatte, die sich kirchlich daneben benommen hatten. Frauen, die ein uneheliches Kind bekommen hatten, mussten in der Kirche auf das „Arme-Sünder-Bänkchen“, vor aller Augen beschämt und vorgeführt, bis sie nach Absitzen der Strafe wieder in die Bankreihen der Frauen und damit wieder in die Gemeinschaft zurückkehren durften. Heute heißt es: wenn ihr mir blöd kommt, dann gehe ich einfach nicht mehr hin; dann trete ich halt aus; von wegen mich vorführen oder dumm anschauen lassen. Was war es, dass der Zöllner  trotz allem zum Tempel ging; obwohl er sich ausrechnen konnte, wie die anderen, die Rechtschaffenen und Rechtgläubigen ihn behandeln würden. Er hatte es wohl schon häufig genug erfahren. Es war wohl nicht jener Sozialdruck, der bei uns früher herrschte und der dazu beitrug, dass man in die Kirche ging und sich auch der Kirchenstrafen unterzog, weil man sonst auch auf der Straße und in der Nachbarschaft geächtet worden wäre. Der Zöllner schielt nicht darauf, wie die andern reagieren, ob sie zu ihm herschauen oder wie sie ihn anschauen. Er ist sozusagen mit seinem Gott allein.

Dass wir uns heute mit diesem Zöllner identifizieren und sein Beichtgebet im Gottesdienst nach- und mitsprechen, ist gar nicht selbstverständlich. Das ist nur möglich, weil sich grundlegend geändert hat, was man unter einem „Sünder“ versteht. Zur Zeit Jesu unterschied man klar zwischen Sündern und Gerechten; man könnte sagen: so wie man in einer Schafherde zwischen weißen und schwarzen Schafen unterscheiden kann; nur dass in einer Schafherde die schwarzen und weißen miteinander und nebeneinander grasen und nachts im Pferch nächtigen. Die Gerechten damals, die sich wie der Pharisäer an die Gebote hielten und ihren religiösen Pflichten nachkamen, also Kirchensteuer zahlten bzw. ihren Zehnten spendeten usw., die hielten sich fern von den offenkundigen Sündern. Der Pharisäer zählt sie auf: Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder eben Zöllner. Wir können uns den Gegensatz und Widerspruch wohl nicht gar nicht deutlich genug vorstellen, wenn Paulus im Römerbrief schreibt: Wir sind alle Sünder. Aber vielleicht sind wir heute gar nicht so weit weg von diesen gesellschaftlichen Moralvorstellungen, die zur Zeit Jesu herrschten. Auch bei uns wird eingeteilt zwischen den Anständigen, denen mit der weißen Weste (zumindest äußerlich) und zwielichtigen oder gar kriminellen Elementen.

Wenn wir uns also mit diesem Sünder identifizieren sollen, ja wenn er uns jenseits aller bürgerlichen Moral gar als Vorbild hingestellt wird, dann wollen wir genauer hinschauen, warum. Der Zöllner ist also mit seinem Gott allein. Er hat sich nicht abhalten lassen, in den Tempel zu gehen. Ob ihm egal war, was die anderen, die „Gerechten“ über ihn sagten, wie sie anschauten oder gar ausbissen; ob es ein Spießrutenlaufen war, so dass er sich ganz im Hintergrund hält? Auch wenn er nicht wagt, die Augen aufzuheben zum Himmel, so wie es im Psalm heißt: „Ich hebe meine Augen auf... Woher kommt mir Hilfe?“. Er wendet sich an Gott. Und das heißt: er wendet sich an den Richtigen, die richtige Adresse, die richtige Instanz. Das ist der erste Punkte in Sachen Vorbild. Martin Luther hat es in seiner Auslegung des ersten Gebotes im Großen Katechismus ausgeführt: Keinen anderen Gott haben, bedeutet ganz einfach: sich an ihn wenden.

Das zweite Vorbildliche: Er schlägt sich an seine Brust. Das Vorbildliche liegt für mich jetzt nicht so sehr in dem Akt der Buße, dass er sich mit der Faust an die Brust schlägt, sich selbst Schmerz zufügt. Das gab und gibt es nicht nur bei den Mönchen, die sich selbst schlugen mit Peitschen, sich selbst Schmerz zufügten, um sich zu bestrafen für ihre Sünden, und seien es nur sündhafte Gedanken. Das gibt es auch in anderer Form, dass Menschen meinen, sich selbst bestrafen zu müssen als Buße. Das wäre genau das Gegenteil dessen, was Jesus will. Der Zöllner wurde nicht gerechtfertigt durch seine Selbstkasteiung, durch seine Scham und Reue, seine Zerknirschung, wie man das später nannte, sondern weil er Gott um Gnade bat. Er schlägt sich an die eigene Brust. Das ist so ziemlich das Gegenteil davon, sich selbst auf die Brust klopfen. Dazu muss diese ziemlich geschwellt sein vor Stolz. Freilich gibt es das auch, dass Leute noch stolz sind auf ihre Untaten. Das Klopfen auf die Brust hat auch nichts mit der Thymusdrüse zu tun, die sich hinter dem Brustbein befindet, ungefähr vier Finger unter der Halskuhle, und die durch leichtes Klopfen mit den Fingern oder der Faust dazu aktiviert wird, die dort produzierten T-Lymphozyten auszuschütten. Das soll angeblich dazu führen, dass die Lebensgeister wieder geweckt werden und man alle Müdigkeit und Niedergeschlagenheit im Handumdrehen, oder eben nach einer Minute auf die Brust klopfen, wieder vergisst und sich wie neugeboren fühlt. Sich selbst auf die Brust zu klopfen, das lag dem Zöllner in diesem Augenblick sicher völlig fern, weder als Zeichen des Stolzes noch um sich selbst aufzumuntern. Es bedeutet für mich ganz einfach: ich sagen.

Der Pharisäer vergleicht, er zeigt auf die anderen: Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen Leute, vor allem nicht wie dieser da. Zu solch einem Hochmut hatte der Zöllner sicherlich keinen Grund; aber auch in puncto Sünde und Schuld liegt die Versuchung nahe, auf andere zu zeigen: die anderen sind schuld. Adam, das Musterbeispiel von einem Mann fängt schon damit an beim Sündenfall: die Frau, die du mir gegeben hast, ist schuld; also nicht nur Eva, sondern indirekt Gott selbst ist schuld; aber Eva steht ihrem Adam in nichts nach: die Schlange war es, die böse Macht. Da sind Menschen sehr erfinderisch, wenn es darum geht, Schuld abzuschieben und andere Schuldige zu finden; und wenn es nur die berühmten Umstände sind, die mich angeblich zu dem werden ließen, was ich bin. Der Zöllner sagt ganz einfach: ich. Auch wenn sich vieles aufführen ließe, warum man ihn in diese Außenseiterposition gebracht hatte, warum dieses System den Menschen korrumpierte; auch wenn andere ihren Anteil mit daran hatten. Er sagt: Gott, sei mir Sünder gnädig. Was andere am Stecken hatten, ob vielleicht sogar dieser Pharisäer doch nicht so eine saubere Weste hatte, das interessiert ihn nicht. Jesus stellt es gar nicht in Frage, macht aus dem Pharisäer keinen Scheinheiligen, wie es die Christen später machten, dass sie sogar einen Drink nach ihnen benannten, bei dem der Alkohol scheinheilig unter Sahne versteckt wird. Es geht nicht darum, dem Frommen nachzuweisen, dass bei ihm auch nicht alles in Ordnung ist. Auch das könnte wiederum zur Ausrede und Ablenkung dienen. Es geht um dieses ganz einfache „ich“, so wie es im Spiritual gesungen wird: „It,s me, it,s me, o Lord.

Freilich kann auch dieses „Ich bin es“ ins Gegenteil umkippen. Der Mensch, der grandios sein will, möchte es zuweilen sogar in seiner Sünde sein. Auch das gehört zu dem Hochmut, vor dem der Wochenspruch warnt, dem „sich selbst erhöhen“, das Jesus am Ende anspricht, dass es nämlich dazu kommen kann, dass sich jemand in seiner Sünde und Schuld ganz einmalig fühlt. Meine Schuld ist so groß, dass sie nicht vergeben werden kann. Sehr fromme Menschen leiden manchmal an dieser Form von Selbstüberschätzung. Dagegen hilft es, in aller Demut dieses Beichtgebet gemeinsam zu sprechen, wie wir es im Gottesdienst tun. Für die Frommen damals war der Zöllner so etwas wie der Allerletzte. Dass der gerechtfertigt heimgehen sollte, als Gerechter zurück in sein Haus, das war unvorstellbar und ein Skandal; nur weil er diesen Satz gesagt hat: Gott, sei mir Sünder gnädig. Nur weil er in seiner Verzweiflung keinen anderen Ausweg mehr fand; nicht einmal von Wiedergutmachung ist die Rede wie bei Zachäus, obwohl die dort ja auch erst nach der Vergebung kam. In der Einleitung heißt es, dass Jesus das Gleichnis zu einigen sprach, die sich anmaßten, fromm zu sein und die anderen verachteten. Für sie konnte das nur ein Ärgernis sein, dass dieser Zöllner, dieser Ausbund an Sünde, am Ende gerechtfertigt heimgeht und nicht der Pharisäer mit seinem vorbildlichen Lebenswandel. Für alle anderen aber, die sich als große oder kleine Sünder wissen, ist es ein Trost, dass sogar der Zöllner Gnade findet. Und dem, der sich in seiner Sünde allzu groß und einmalig vorkommt, sei es eine Mahnung zur Demut. Martin Luther mokierte sich manchmal über die eingebildeten „Puppensünden“. Demut heißt: Ich sagen können, aber sich nichts darauf einbilden. Deshalb bleiben wir bei dem Zöllner und sprechen ihm auch in Zukunft gerne nach: Gott, sei mir Sünder gnädig. Amen



Autor: Dekan Hans Peetz