Der neue Mensch, Akademischer Gottesdienst in der Spitalkirche

2. Korinther 5,17


Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.

Liebe Gemeinde,

googelt man das Stichwort „der neue Mensch“ im Internet, so stößt man an vorderster Stelle auf einen Jahresrückblick der Wochenzeitung „Die Zeit“, allerdings schon ein Rückblick auf 2014. Unter der Überschrift „Der neue Mensch“ heißt es: „Das Jahr 2014 wird, wenn nicht alles täuscht, als Epochenbruch erinnert werden. Es hat die Epoche endgültig verabschiedet, da sich utopische Fantasien vornehmlich auf die Gesellschaft richteten, auf eine gerechtere Verteilung wirtschaftlicher Güter, auf die Befreiung unterdrückter Klassen und Völker. Die Utopien von 2014 setzen nicht mehr auf politische Befreiung von Macht und Ausbeutung, sondern auf eine Befreiung von den Bindungen der Menschennatur.“

Nun bin ich, wie ich schon in der Predigt am letzten Sonntag, in der es auch um das Neu-werden ging, skeptisch, wenn dauernd vom Anbruch einer neuen Zeit, einer neuen Epoche gesprochen wird. Aber die Beobachtung stimmt auf jeden Fall: die Zeit der großen gesellschaftlichen Utopien ist vorbei. Im Westen wie im Osten hoffte man ja im 20. Jahrhundert, den neuen Menschen durch gesellschaftliche Entwicklung schaffen zu können. Vor allem der Kommunismus hatte dieses Ziel vor Augen. Einfach gesagt: weil Besitz, Eigentum und Gewinnstreben den Menschen von seiner natürlichen Bestimmung entfremdeten, entsteht der neue Mensch quasi automatisch, wenn Großbesitz an landwirtschaftlichen Flächen, an Industrieanlagen – also die „Produktionsmittel“ enteignet und vergesellschaftet werden. Die Theorie von Karl Marx und anderen grob ausgedrückt: Gier, Besitzstreben und die daraus resultierende Unterdrückung der arbeitenden Bevölkerung verzerrt das Gesicht der Menschen. Hebt man diese Besitzverhältnisse auf, zeigt der Mensch sein wahres, nämlich gutes Gesicht. Vielleicht hat da die christliche Urgemeinde in Jerusalem indirekt Pate gestanden, von der es hieß, dass sie einträchtig beieinander waren und keiner beanspruchte, dass ihm etwas gehöre. Im Westen sollte gesellschaftlicher Fortschritt den neuen Menschen ermöglichen: Bildung und Wohlstand, Demokratisierung, Freiheit für alle. Wir wissen, dass der Kommunismus gescheitert ist. Die soziale Marktwirtschaft in einer liberalen Gesellschaft hat große Verbesserungen gebracht. Der neue Mensch entstand aber weder im Osten noch im Westen.

Mit dem Bild von Leila Kleineidam ausgedrückt, heißt das: Der Kranz um die Stirn, die Krone des Wesens, das sich als Krone der Schöpfung bezeichnet, besteht aus Scherben. Die Identität ist zerbrochen, bruchstückhaft geworden. Das ist ja die Erfahrung vieler: keine durchgehende, stimmige Biographie mehr, in der alles planmäßig Abläuft in Ehe, Familie, Beruf usw., sondern „patchwork“, Zerstückelung. Das Leben nicht als Ganzes, in dem alles seinen Sinn hat, sondern vielmehr die Frage: wie passt das alles zusammen. Dazu ein Stück Stacheldraht, mit dem jetzt an den Grenzen europäischer Länder die Flüchtlinge abgehalten werden sollen, und der an die Dornenkrone Jesu erinnert. Wie sagte Pontius Pilatus, als er den blutüberströmten, dornengekrönten Jesus der Menge vorführte, verhöhnt durch den purpurnen Königsmantel: Ecce homo, seht, das ist der Mensch. Die Spiegelfragmente sagen mir, dass wir uns da wie im Spiegel sehen, und dass der Spiegel zerbrochen ist. Paulus sagt: wir sind mit Christus vereint im Leiden und Sterben. Ja, wir sind mit ihm gestorben. Soll das der neue Mensch sein?

Zurück zur ZEIT. Statt der Hoffnung auf gesamtgesellschaftlichen Fortschritt, auf den Anbruch der neuen Zeit für alle – und damit eben auch für die Armen, für die „bildungsfernen Schichten“, ja sogar die Straftäter, die durch Resozialisierung wieder eingegliedert werden sollten – statt der neuen Zeit für alle, soll nun der neue Mensch nach Meinung des Zeit-Kommentators zum Projekt des einzelnen werden: „Diese Fortschrittshoffnung träumt nicht von der Umgestaltung des sozialen Umfelds, sondern von der Erweiterung individueller Möglichkeiten. Selbstoptimierung lautet der dafür eingeführte, aber hoffnungslos unscharfe Begriff. Was wirklich erträumt wird, hat das Jahr 2014 niedergelegt, indem es die konkreten Stichwörter in rascher Folge genannt und damit in ihrem Zusammenhang vorgeführt hat.

Nehmen wir die wichtigsten vier, und beginnen wir mit dem ersten Stichwort, dem „Social Freezing“, dem Einfrieren und Vorratslagern von Eizellen, das der Frau erlaubt, den Zeitpunkt der Mutterschaft zugunsten der Karriere hinauszuschieben. Sollte die Frau zu lange gewartet haben oder um ihre körperliche Attraktivität bangen, kann sie, Stichwort zwei, auf eine Leihmutter zugreifen. Sollte sie zögern, dem Kind ein Geschlecht zuzuweisen, oder seiner sexuellen Orientierung nicht vorgreifen wollen, besteht die neue Möglichkeit, Stichwort drei, in Geburtsurkunde und Pass das Geschlecht unbestimmt zu lassen. Hat es schließlich mit der Lebensplanung, bei aller Offenheit und Vorsicht, doch nicht zum Glück gereicht, ist man depressiv oder zum Opfer antiquierter Krankheiten aus der Vorgeschichte der Menschheit geworden, darf die Forderung nach Sterbehilfe erhoben werden, Stichwort vier.

"Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen" lautete einmal die klassische Formel eines christlichen Begräbnisses. Damit soll es für immer vorbei sein. "Der Mensch hat’s gegeben, der Mensch hat’s genommen" wird die Begräbnisformel der Zukunft heißen. Der aufgeklärte Westler mag vielleicht schon lange nicht mehr geneigt gewesen sein, sein Leben als Geschenk Gottes zu betrachten – aber neueren Datums ist doch die Neigung, das Leben als eigenes Geschenk an sich selbst zu betrachten, mit dem dann, konsequenterweise, auch nach Belieben verfahren werden kann, einschließlich der Vernichtung nach Gutdünken.“

An manchen Punkten, z.B. bei der Bestimmung des Geschlechts, meine ich, dass hier ein paar extreme Einzelfälle publikumswirksam überbewertet werden. Im Zusammenhang mit dem Vortrag einer Frau Kuby in der Nikodemuskirche wird davon gesprochen, dass der schöpfungsmäßge Unterschied zwischen Mann und Frau aufgehoben werden soll, so dass jeder und jede das Geschlecht selbst bestimmen soll oder Doppelwesen entstünden. Ich halte das für maßlos übertrieben. Und in jeder Gesellschaft gibt es einen einstelligen Prozentsatz von Menschen mit homophiler Neigung, ob diese unterdrückt wurden oder ob man dazu steht. Die Tendenz aber, sich sein Leben, vielleicht auch seinen Körper im Sinne der „Selbstoptimierung“ zusammenzubasteln oder zusammenbasteln zu lassen, ist sicher unbestreitbar. Ob allerdings ein Brustimplantat oder mit Botox gespritzte Lippen schon einen neuen Menschen machen, ist mehr als fraglich.

Im Bild von Leila Kleineidam sehe ich dieses „Zusammenbasteln“ des neuen Menschen in den Bruchstücken, den zusammengesetzten Teilen in verschiedenen Ebenen., wodurch das Gesicht Plastizität, Tiefe gewinnt und einzelne Teile, wie zum Beispiel der Mund oder das eine Auge hervorgehoben werden. Und insgesamt wirkt der junge Mann auf mich wie ein Ideal, eine Ikone – mit dem vollen Mund und den großen hellen Augen, die einen so eindringlich ansehen. Viele, besonders junge Menschen, wollen ja so werden, so aussehen wie ihr Vorbild, ihr Idol. Für sie ist das der neue Mensch, der göttliche Mensch, den sie verehren und nacheifern. Jesus Christus ist es heute für die wenigstens. „Jesus Christ superstar“ ist längst vorbei. Wo er doch wirklich der neue Mensch war und ist.

Dieses Bild ist anschaulich. Menschen brauchen Bilder, schon immer und heute ganz besonders. Wie kann ich mir den neuen Menschen vorstellen? Da macht es uns der Apostel Paulus allerdings gar nicht einfach: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, lautet sein berühmter Leitsatz. Was die neue Kreatur sein könnte, das können wir uns ja vorstellen. Als Jugendliche haben wir mit dem Lied der Focolarini aus Italien gesungen: „neu ist der Mensch, der liebt wie er“. Was und wie der neue Mensch sein könnte, ergibt sich vor allem daraus, wie er eben nicht sein sollte. Marx stellte fest, dass viele von sich selbst entfremdet leben. Das hieß damals: in Fabriken am Fließband sieben Tage in der Woche schuften zu einem Hungerlohn, ohne Arbeitnehmerrechte. Was die Sehnsucht nach dem neuen Menschen entfacht, damit lassen sich Bücher füllen. Dass er eben nicht böse, gewalttätig ist, egoistisch oder gleichgültig gegen die Not seines Nächsten, sondern gut – wie Goethes es ausdrückt: edel sei der Mensch, hilfreich und gut – so dass eben der abschätzige Ausdruck „Gutmensch“ nicht zum Unwort des Jahres gekürt werden müsste. Warum wir einen neuen Menschen bräuchten, ist offensichtlich. Theologisch ausgedrückt und zusammengefasst: wegen der Sünde. Wie der aussehen könnte und sollte, auch darauf haben zumindest wie Christen eine anschauliche Antwort. In den Evangelien, in den Taten und Worten Jesu sehen wir ihn, auch wenn wir nicht wissen, wie er ausgesehen hat. Da macht sich jeder sein eigenes Bild.

Aber wie das funktionieren soll, da macht es uns Paulus nicht leicht, das zu verstehen. „Ist jemand in Christus“. Vorher schreibt Paulus, dass wir, die wir an Jesus Christus glauben, mit ihm gestorben sind. Und deshalb würden wir einander nicht mehr kennen nach dem Fleisch. Also die anderen Christen und ich selbst sind nicht mehr die, die wir kennen, nicht das, was wir sehen, wenn wir einander anschauen oder wenn wir gar in ihre Gedanken und Gefühle blicken könnten. Schwer verständlich.  Vielleicht hilft es weiter, dass Paulus auch von Jesus sagt: auch die, die Jesus noch nach dem Fleisch gekannt haben, ihn also noch zu Lebzeiten kennengelernt hatten – da lebten ja noch einige 20 Jahre nach Jesu Tod, auch die kennen ihn nicht mehr nach dem Fleisch. Das heißt doch: durch Tod und Auferstehung ist er verwandelt, neu geworden. Der neue Mensch, das ist zunächst der Auferstandene. Die neue Kreatur, die Neuschöpfung gibt es nicht vorher. Das ist zunächst eine Absage an alle menschlichen Bemühungen, einen neuen Menschen zu schaffen. Jesus Christus ist auferstanden. Er bleibt der Gekreuzigte. Die Nägelmale, die Spuren der Dornenkrone trägt er weiter. Der ungläubige Thomas soll seine Finger in die Wunden Jesu legen. Aber die Wunden haben sich verwandelt. Sie sind nicht mehr schmerzhafte Todesmale, sondern Zeichen seiner Herrlichkeit, dass er den Tod überwunden hat. Soviel zum Thema Selbstoptimierung: der neue Mensch verleugnet oder beseitigt die Wunden und Narben, die Verletzungen, das Unschöne nicht.

Und nun gibt es das Geheimnis, dass wir jetzt schon, in unserer irdischen Existenz, sozusagen als die Alten – das bezieht sich nicht aufs Lebensalter, auch junge Leute zählen hier als „der alte Mensch“; so wie die die Band „Frida Gold“ gerade für junge Menschen singt: „Wovon können wir träumen, so wie wir sind?“ – es gibt also das Geheimnis, dass wir jetzt schon diese Auferstehung erleben können. „Wie neu geboren“ können wir uns nicht nur nach einem Duschbad oder einem Besuch in der Lohengrin Therme fühlen. Im Glauben geht es ja gar nicht, so sehr darum, sich neu zu fühlen. Wenn es in der Bibel heißt „in einem neuen Leben wandeln“, dann ist die Ethik gemeint. Es gibt eben hoffnungslos veraltete und überholte Verhaltensweisen, selbst wenn sie als modern ausgegeben werden. Da stimmt es schon, das Lied aus meiner Jugendzeit (ganz unakademisch ausgedrückt): Die Erde ist schön, es liebt sie der Herr. Neu ist der Mensch, der liebt wie er. Amen



Autor: Dekan Hans Peetz