Luthers Lieder - 5. Akademischer Gottesdienst der 9. Reihe "Davon ich singen und sagen will"

Matthäus 8,4-15


Vom Sämann

(4) Als nun eine große Menge beieinander war und sie aus den Städten zu ihm eilten, redete er in einem Gleichnis:
(5) Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel einiges auf den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen's auf. (6) Und einiges fiel auf den Fels; und als es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtigkeit hatte. (7) Und einiges fiel mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten's.
(8) Und einiges fiel auf gutes Land; und es ging auf und trug hundertfach Frucht. Als er das sagte, rief er: Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Vom Sinn der Gleichnisse

(9) Es fragten ihn aber seine Jünger, was dies Gleichnis bedeute.
(10) Er aber sprach: Euch ist's gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu verstehen, den andern aber in Gleichnissen, damit sie es nicht sehen, auch wenn sie es sehen, und nicht verstehen, auch wenn sie es hören.

Die Deutung des Gleichnisses vom Sämann

(11) Das Gleichnis aber bedeutet dies: Der Same ist das Wort Gottes.
(12) Die aber auf dem Weg, das sind die, die es hören; danach kommt der Teufel und nimmt das Wort aus ihrem Herzen, damit sie nicht glauben und selig werden.
(13) Die aber auf dem Fels sind die: wenn sie es hören, nehmen sie das Wort mit Freuden an. Doch sie haben keine Wurzel; eine Zeit lang glauben sie und zu der Zeit der Anfechtung fallen sie ab.
(14) Was aber unter die Dornen fiel, sind die, die es hören und gehen hin und ersticken unter den Sorgen, dem Reichtum und den Freuden des Lebens und bringen keine Frucht.
(15) Das aber auf dem guten Land sind die, die das Wort hören und behalten in einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht in Geduld.

 

Liebe Gemeinde,


 

eines der ersten Luther-Lieder haben wir gerade gesungen (EG 280). Es ist sogar das älteste im Druck überlieferte, Anfang 1524, im Anhang zu einer Luther-Schrift über den Meß-Kanon. Luther hat hier den kurzen Psalm 67 in Liedform übertragen. Das Psalmlied als Gattung ist tatsächlich Luthers Erfindung. Die Psalmen – er hat sie als Mönch im täglich mehrfachen Stundengebt alle rauf und runter gesungen, auf Latein und in der musikalisch eintönigen Weise der Rezitation mit gregorianischen Psalmtönen. Als sprachsensibler Mensch hat Luther erkannt, dass in solch liturgischem Alltagsgeleier die ungeheure Sprachkraft der Psalmen gar nicht zur Geltung kommt. Als Theologe, als Bibelausleger hat Luther sich in mehreren Anläufen vorrangig den Psalmen gewidmet (»Operationes in psalmos«). Da entdeckt er, was Glauben wirklich heißt in der ganzen Spannweite zwischen Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Und da lernt er, wie Gott gelobt sein will, aber auch, wie Gott gebeten werden will in der Not des einzelnen Menschen wie des ganzen Volkes.

 

„Gott sei uns gnädig und segne uns/ Er lass uns sein Antlitz leuchten“ beginnt Psalm 67. Luther hat ihn schon vor seiner Bibelübersetzung im 1522 erschienenen Betbüchlein auf Deutsch abgedruckt mit der Überschrift „zu beten um Erhebung des Glaubens.“ Daneben steht dort Psalm 12 „zu beten um Erhebung des heiligen Euangelions“: „Hilf Herr, die Heiligen haben abgenommen und der Gläubigen ist wenig worden unter den Menschenkindern.“ Beide Psalmen bringt er Ende 1523 in Liedform. (Psalm 12 wird zum Lied „Ach Gott vom Himmel sieh darein“ EG 273, das wir heute leider nicht berücksichtigen können). Wenn nicht mehr die Mönche und Nonnen im Kloster, sondern das Volk die Psalmen singend beten soll, dann müssen sie in die Form des Volksgesangs gebracht werden – das aber ist die Form des Strophenlieds. Auf die Idee, die Psalmen gemeinsam zu sprechen, kam damals nur der Züricher Reformator Zwingli, weil er strikteste Vorbehalte gegen die sinnlichen Verführungen des Singens hatte. Für Luther ist klar: Wer gemeinsam etwas aussprechen will, macht das singend, und zudem gilt mit Augustin: „Wer singt, betet doppelt“ (bis orat, qui cantat). Für den Augustinermönch Luther ist ganz entscheidend, dass unser Gebet an Gottes Ohr dringt gerade dann, wenn wir unsere Anliegen singend vorbringen. Mit Singen nämlich können wir Gottes Herz erweichen. Glauben ist „heart to heart“-Kommunikation, von Gottes Vaterherz zu des Menschen Herz und umgekehrt. Und wie des Menschen Herz durch Affekte gerührt, erweicht wird, so auch Gottes Herz. Die Sprache der Affekte aber ist die Musik.

 

Wenn wir also betend nachhelfen wollen, dass die Saat des Evangeliums aufgeht, dass der Glaube an das Wort Gottes wächst, dann müssen wir Gott mit einem Lied in den Ohren liegen, in sein Herz dringen. Psalm 67 und das heutige Evangelium vom vierfachen Ackerfeld gehören tatsächlich zusammen. Luther trägt die Deutung des Wachstums-Gleichnisses aus dem Evangelium in das Psalmlied ein. „Das Land bringt Frucht und bessert sich, dein Wort ist wohlgeraten.“ - Das ist die Verheißung am Ende des Gleichnisses. Anders als dann bei den Psalmliedern der reformierten Kirche geht es bei Luther immer um die gesamtbiblische Deutung, um das christliche Verstehen der Psalmen. Wenn es im Psalm heißt „dass wir auf Erden erkennen seinen Weg, unter allen Heiden sein Heil“, dann meint das für uns „und Jesus Christus, Heil und Stärk, bekannt den Heiden werden und sie zu Gott bekehren“ (Str. 1). Dieses Lied zu Psalm 67 wurde übrigens im Luthertum bis zu Bachs Leipziger Zeiten als Segenslied am Ende des Gottesdienstes gesungen. „Nun sprecht von Herzen. Amen“ war so das „Amen“ der Gemeinde zum Empfangen des Wortes Gottes zuvor im Gottesdienst.

 

Das Lied zu Beginn unseres Gottesdienstes heute (EG 362)– es gilt seit dem 19. Jahrhundert als „das Lutherlied“ schlechthin – wurde von Luther auch den Psalmliedern zugeordnet, und zwar Psalm 46 „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns betroffen haben“. Da hat sich Luther aber kaum an die Worte des Psalms gehalten, nur an den Duktus der großen Zuversicht inmitten aller Anfeindung. Auch die signifikanten Anfangsbilder von der „festen Burg“ und von „Wehr und Waffen“ stehen nicht im Psalm. Die „feste Burg“ steht allerdings nah an den lateinischen Worten des Psalmbeginns: „Deus noster refugium“. Ein Refugium, das war etwa die Wartburg für Luther in der ersten Zeit nach Verhängung der Reichsacht über ihn. Dieses Lied ist aber erst etwa fünf Jahre später als die ersten Psalmlieder entstanden.

 

Wir wollen uns jetzt eines dieser ersten Psalmlieder, u.U. das erste überhaupt, vornehmen, „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ (EG 299). Es überträgt den 130. Psalm in Liedform. Psalm 130 gehört zu den sieben Bußpsalmen. Er beginnt in der lateinischen Bibel und also in der klösterlichen Singpraxis mit den Worten „De profundis clamavi ad te, Domine“ und wird daher einfach das „De profundis“ genannt. „De profundis“, das ist ein eindrückliches Bild – ganz von unten, am Boden liegend, erhebe ich meine Stimme zu Gott. „Clamavi“ – ich bete nicht gesittet, ich „schreie“ oder präziser „ich bin schon geraume Zeit am Schreien“, weil ich Gott nur als unendlich weit oben und weitab wahrnehmen kann. Zwischen Gott und mir steht wie eine unüberwindliche Mauer meine übergroße Schuld: „So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehn?“ (V.3) Dieser Psalm wurde ja seit den Zeiten der Alten Kirche als Bußpsalm gebetet, ein Sprachrohr, mit dem der sündige Mensch seine Schuld, seine Entfernung von Gott artikulieren kann, um sich aber ganz der Gnade Gottes auszuliefern: „Denn bei Dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.“ (V.4) Luthers erste deutsche Schrift vor genau 500 Jahren, im Jahr 1517, ist eine Übersetzung und Auslegung der sieben Bußpsalmen, veröffentlicht noch vor den berühmten 95 (lateinischen) Thesen zum Bußsakrament. Die Bußpsalmen weisen in Luthers Augen den Menschen den Weg, wie der gnädige Gott zu finden ist.

 

Also brauchen die Bußpsalmen auch die Form des Liedes, damit das Evangelium in rechter Weise „unter den Leuten bleibe“, wie Luther Ende 1523 in einem Brief an den kursächsischen Hofbeamten Georg Spalatin schreibt. Er will den aus dem mittelfränkischen Spalt stammenden Mitstreiter als Mit-Liederdichter gewinnen. Denn es ist völlig ungewöhnlich, dass theologische Sachverhalte auf Deutsch und dann auch noch in Gedichtform artikuliert werden. Das kann nicht jeder mit lateinisch geprägter Schul- und Universitätsbildung. Spalatin beißt da auch gar nicht an. So muss Luther weiter selber Lieder dichten. Dem Brief an Spalatin hat er sein Bußpsalmlied „Aus tiefer Not“ als Muster beigelegt. Dieses Lied ist nicht nur herausragend in seinem Text als Psalm-Deutung, sondern auch mit seiner eigenen Melodie. Luther hat zunächst eine Melodie als Vorlage, die Sie von einem anderen Lied her kennen (Strophe 1 singen nach EG 342 „Es ist das Heil uns kommen her“). Diese Melodie kannten die Menschen damals von einem Osterlied „Nun freut euch alle, Frau und Mann, dass Christ ist auferstanden“. – Dazu hatte Luther zunächst das Lied geschaffen (singend)  „Nun freut euch, lieben Christen g`mein und lasst uns fröhlich springen“. Dann dichtete er weiter mit dieser Strophenform, kam aber offensichtlich bald zur Erkenntnis, dass ein Buß-Schrei aus der Tiefe anders klingen sollte als ein Osterlied, auch wenn am Schluss die Gewissheit der Gnade steht. So lässt sich Luther eine dafür ganz spezifische, eigene Melodie einfallen. – „Aus tiefer Not“ – Nicht allein der Quintfall für die „Tiefe“ der Not, sondern mehr noch die Rückkehr zum Ausgangston und der anschließende Halbtonschritt –  das macht die Tiefe als „Not“ förmlich spürbar. Für damalige Regeln der Melodiebildung ist das ziemlich ungeheuer! „Wort und Ton müssen zusammenstimmen“, sagt Luther an anderer Stelle. Krasse Worte verlangen also auch krasse Töne.

 

Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen.
Dein gnädig Ohr neig her zu mir und meiner Bitt es öffne;
denn so du willst das sehen an,
was Sünd und Unrecht ist getan,
wer kann, Herr, vor dir bleiben?

 

Als Tonart hat Luther das klagende Phyrgisch gewählt. Am Strophenende erleben Sie das Spezifische dieser Tonart, den Halbtonschritt zum Grundton hin, ganz elementar in der Verbindung mit dem Fragesatz – „wer kann, Herr, vor dir bleiben?“ Der Halbtonschritt ist das Fragezeichen! Diese Melodie zeigt Luthers enorme Sprachsensibilität auch im Reich der Töne. Seine eigenen Melodien sind nicht weniger genial als seine Liedtexte.

 

Gehen wir weiter zur zweiten Strophe: „Bei dir gilt nichts den Gnad noch Gunst, die Sünde zu vergeben“ – „sola gratia“ (allein aus Gnade) haben Sie alle als eines der reformatorischen Prinzipien gelernt. „Bei dir gilt nichts denn Gnad noch Gunst“ – acht prägnant einsilbige Worte, die münden in die Doppelwendung Gnad noch Gunst mit G-Alliteration – so wird die lateinische Formel „sola gratia“ zum deutschen Sprachereignis. Damit Sie besser hinhören können auf Luthers Liedworte, singe ich Ihnen die Strophen 2 und 3 vor – und zwar mit der ursprünglichen Melodie, die Luther im Ohr hatte, als er das Lied dichtete. … (Str 2 und 3 nach EG 342)

 

Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben;
es ist doch unser Tun umsonst auch in dem besten Leben.
Vor dir niemand sich rühmen kann;
des muss dich fürchten jedermann
und deiner Gnade leben.

 

Darum auf Gott will hoffen ich, auf mein Verdienst nicht bauen.
Auf ihn mein Herz soll lassen sich und seiner Güte trauen,
die mir zusagt sein wertes Wort.
Das ist mein Trost und treuer Hort;
des will ich allzeit harren.

 

In Strophe 3 hat Luther noch weitere G-Worte eingebracht: Gott/ Güte. Auch der folgende Buchstabe im Alphabet ist wichtig, das H von hoffen, von Herz, von Hort und von harren. Bei seiner Psalmübersetzung 1517 hatte Luther noch buchstabiert: „Ich hab gottis gewartet, und mein Seel hat gewartet, und auf sein Wort hab ich gebetet.“ Beim Lieddichten 1523 hat er das vom menschlichen Atem gestützte H entdeckt, das Herz-H. Und in seiner späteren Übersetzung der ganzen Bibel steht dann „Jch harre des HERRN / meine Seele harret / Vnd ich hoffe auff sein Wort.“ (V.5, 1545)

 

Das hoffende und harrende Herz ist das Lebens-Organ des Glaubens an die Vergebung. Herz ist wieder Subjekt in der nächsten, vierten Liedstrophe. Die Psalmworte dazu lauten:  „Meine Seele wartet auff den HErrn / Von einer Morgenwache bis zur andern.  Jsrael hoffe auff den HERRN.“ Wir singen das jetzt wieder mit Luthers eigener Melodie.

 

Und ob es währt bis in die Nacht und wieder an den Morgen,
doch soll mein Herz an Gottes Macht verzweifeln nicht noch sorgen.
So tu Israel rechter Art,
der aus dem Geist geboren ward,
und seines Gottes harre.

 

Bei der letzten Strophe bringt Luther nochmals einen sprachlichen Kunstgriff, um die Pointe zu setzen. Im Psalm hat er schlicht übersetzt: „denn die Barmherzigkeit ist bei Gott und mannigfältig ist bei ihm die Erlösung.“  Im Lied aber setzt er eine rhetorische Steigerungsfigur, angelehnt an ein Pauluswort im Römerbrief (5,15): „Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnade.“ Das ist sprachlich nicht zu toppen als Entfaltung des „sola gratia“. Und er doubelt es noch mit einem ganz lebensnahen Bild „sein Hand zu helfen hat kein Ziel, wie groß auch sei der Schade.“ (Nebenbemerkung: Bei Gott gibt es keine „Obergrenze“!) Und zum dritten bringt Luther noch explizit eine „solus“-Aussage: „Er ist allein der gute Hirt“. Das affektstärkste biblische Bild für Christus bei den Gläubigen aller Zeiten –  „Ich bin der gute Hirte“, das Christuswort Johannes 10 nimmt Psalm 23 für sich in Anspruch. Ebenso dichtet Luther die Psalmlieder als Christuszeugnis. Singen wir diese pointierende Schlussstrophe.

 

O bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnade.
Sein Hand zu helfen hat kein Ziel, wie groß auch sei der Schade.
Er ist allein der gute Hirt,
der Israel erlösen wird
aus seinen Sünden allen.

 

Hat unter Ihnen jetzt noch jemand Sorge wegen seiner Sünden? – Ich glaube kaum, falls doch: Singen Sie das Lied und speziell diese Strophe heute zu Hause noch so oft, bis alle Sorge verflogen ist. Im Singen dieses wunderbaren Liedes erfahren Sie leibhaftig, wie Sie als Sünder in den unwiderstehlichen Sog der Gnade Gottes kommen.

 

Luther hat die Sünde des Menschen nie klein geredet, im Gegenteil. Er persönlich hat ja vielfach, wohl sogar etwas krankhaft depressiv immer wieder mit der Anfechtung gerungen, sich doch nicht der schuldhaften Verstrickung entreißen zu können. Luther hat aber mit oft drastischen Worten die verhängnisvolle Schuld der Menschen groß gemacht, weil er damit die Gnade Gottes immer noch größer machen, steigern konnte. Wie bei einer Auktion: Bietet einer von der Schuld-Fraktion noch mehr auf, legt Luther mit Paulus und den Psalmen stets noch mehr Gnade drauf. „Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnade“. Und es ist gerade das Singen, die Musik, was dieses Vielmehr erschließt und dafür bürgt. Mit Singen kann man dem Teufel des Schlechtredens ein Schnippchen schlagen. Das hat Luther persönlich als Erfahrung vielfach erlebt. Aber nicht mit einem Heile-Welt-Singen, das illusionistisch so tut, als ob es keine Schmerzen gäbe, sondern mit einem Singen, das zur tiefen Not steht, das aus tiefer Not schreit.

 

Ich möchte mit Ihnen noch so ein Aufschrei-Lied Luthers singen (EG 518). „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“. Das ist ursprünglich ein lateinischer Gesang „Media vita in morte sumus“. Er setzt an bei der steten Präsenz des Todes mitten im Leben, deutet mit Paulus den Tod als „der Sünde Sold“, bekennt als Bußgesang die eigene Schuld und mündet in den Ruf um Erbarmen – „Kyrieleison“. Luther steigert hier die Todesverfallenheit des Menschen, indem er aus einer Bußstrophe gleich drei macht. Vom Tod umfangen, angefochten von der Hölle Rachen, getrieben von Höllenangst ist dabei die existentialistische Steigerung. Wieder erleben wir am Ende jeder vierten Zeile ein phrygisches Fragezeichen. Zur Antwort geht es aber in der fünften Zeile nach C-Dur mit dem solus Christus-Bekenntnis – „du Herr, alleine.“ Dieser „Heilige Herre Gott“ wird refrainartig in den letzten vier Zeilen um Erbarmen angerufen. Das ist analog zum Sanctus, dem dreimal Heilig in Jesaja 6. Mit drei Strophen gibt es jetzt ein dreimal Dreier-Sanctus, dreifache Huldigung des „barmherzigen Heiland“. Lassen Sie uns das singen als großen, ernsten Bußgesang, der uns öffnet für die noch größere Barmherzigkeit Gottes. (Lied 518)

 

Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.
Wen suchen wir, der Hilfe tu, dass wir Gnad erlangen?
Das bist du, Herr, alleine.
Uns reuet unser Missetat, die dich, Herr, erzürnet hat.
Heiliger Herre Gott,
Heiliger starken Gott,
Heiliger barmherziger Heiland, du ewiger Gott,
Lass uns nicht versinken in des bittern Todes Not. Kyrieleison.

 

Mitten in dem Tod anficht uns der Höllen Rachen.
Wer will uns aus solcher Not frei und ledig machen?
Das tust du, Herr, alleine.
Es jammert dein Barmherzigkeit unser Klag und großes Leid.
Heiliger Herre Gott,
Heiliger starker Gott,
Heiliger barmherziger Heiland, du ewiger Gott,
Lass uns nicht verzagen vor der tiefen Höllen Glut. Kyrieleison.

 

Mitten in der Höllen Angst unser Sünd uns treiben.
Wo solln wir denn fliehen hin, da wir mögen bleiben?
Zu dir, Herr, alleine.
Vergossen ist dein teures Blut, das gnug für die Sünde tut.
Heiliger Herre Gott,
Heiliger starker Gott,
Heiliger barmherziger Heiland, du ewiger Gott,
Lass uns nicht entfallen von des rechten Glaubens Trost. Kyrieleison.

 

Auch wenn es gut ist, jetzt, 500 Jahre nach Luthers Thesenanschlag zum Bußsakrament, Luthers Bußgesänge neu ins Bewusstsein zu rufen – wir wollen heute noch ein von Anfang an positiv gepoltes Lutherlied singen. Wir nehmen das, das Luther offensichtlich als allererstes geistliches Lied gedichtet hat. „Ein fein geistlich Lied, wie der Sünder zur Gnade kommt“ lautet die Überschrift im ersten von Luther redigierten Gesangbuch 1529. Es ist das vorher schon erwähnte „Nun freut euch, lieben Christen gmein“ (EG 341). Hier hat Luther die Form der Ballade aufgegriffen, wie sie fahrende Sänger benutzen, die mit Neuigkeiten von Stadt zu Stadt ziehen und ihre News singend auf dem Markt feilbieten wie Ware. Luther erzählt nach der appellativen Eröffnung in neun Strophen die Story von des Menschen Gefangensein in Schuld, von Gottes Ratschluss zu deren Überwindung und von der dazu veranstalteten „Erdenfahrt“ des Gottessohnes Christus. Im Vorwort zu seiner auf der Wartburg bewerkstelligten Übersetzung des Neuen Testaments, das im September 1522 erscheint, hat Luther den Begriff Evangelium übersetzt als „gute Mär, gute Neuzeitung (»messsage«), gut Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist.“ Diese frohe Botschaft will eben singend laut werden, als solchermaßen kultiviertes „Geschrei“ laut werden, man kann davon „mit Lust und Liebe singen“ (wieder so eine Luther-Alliteration) und man kann das ganz „getrost“ und „all in ein“ – im Unisono singen, weil wir alle gleichermaßen Empfänger dessen sind, „was Gott an uns gewendet hat“. Singen wir die erste Strophe mit Luthers wieder sehr prägnanter, eigener Melodie.

 

Nun freut euch, lieben Christen gmein,  und lasst uns fröhlich springen,
Dass wir getrost und all in ein mit Lust und Liebe singen,
Was Gott an uns gewendet hat  und seine süße Wundertat
Gar teur hat er`s erworben.

 

In zwei Strophen erzählt Luther jetzt die Geschichte des Menschen unter dem Diktat der Sünde. Es gibt dafür ein biblisches Vorbild: Römer 7. Da spricht Paulus ebenfalls in Ich-Rede vom vergeblichen Ringen um die Erfüllung des Gesetzes. Lassen Sie mich diese Ich-Rede Luthers nun alleine vortragen – mit rhetorischen Freiheiten, wie sie ein fahrender Sänger nutzt, um seine Story möglichst plastisch rüber zu bringen. Die 4. Strophe mit Gottes Wende zum Guten singen wir dann wieder „all in ein“.  …

 

Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren,
Mein Sünd mich quälet Nacht und Tag, darin ich war geboren;
Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben mein,
Die Sünd hat mich besessen.



Mein gute Werk, die galten nicht, es war mit ihn verdorben,
Der frei Will hasste Gotts Gericht, er war zum Gutn erstorben.
Die Angst mich zu verzweifeln trieb, dass nichts denn Sterben bei mir bleib,
Zur Höllen mus ich sinken.



Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen,
Er dacht an sein Barmherzigkeit, er wollt mir helfen lassen.
Er wandt zu mir das Vaterherz, es war bei ihm fürwahr kein Scherz,
Er ließ sein Bestes kosten.

 

Mit Strophe 5 folgt die Schilderung der „Erdenfahrt Christi“, beginnend mit dem Sendungsbefehl Gottes an seinen Sohn im Himmel, der diesen dann „gehorsam“ befolgt (Str. 6). Formal ist das alles im Fahrwasser einer Sänger-Ballade gehalten. Inhaltlich entscheidend ist bei Luther der direkte Bezug auf „mich“, das „pro me“. Diese ganze Story gilt mir, meinem Heil. Und der Höhepunkt ist in Strophe 7 die Zusage Jesu an mich: „Denn ich bin dein und du bist mein“. Diese sogenannte Verlöbnisformel gehört im Mittelalter zu jeder anständigen Liebeslyrik wie zum mystischen Sprachreservoir der Glaubens-Experten. Glaubende Seele und Jesus sprechen sich Treue zu wie Braut und Bräutigam. Hier ist wichtig, dass dieser Zuspruch von Jesus ausgeht, nicht vom Ich des Glaubens-Virtuosen. Singen wir die Strophen 5 bis 7 wieder in der Abfolge zwei Balladensänger-Strophen plus eine „all in ein“.

 

Er sprach zu seinem lieben Sohn:  „Die Zeit ist hie zu erbarmen,
Fahr hin, meins Herzens werte Kron, und sei das Heil dem Armen
Und hilf ihm aus der Sünden Not, erwürg für ihn den bittern Tod
Und lass ihn mit dir leben.



Der Sohn dem Vater ghorsam ward, er kam zu mir auf Erden
Von einer Jungfrau rein und zart, er sollt mein Bruder werden.
Gar heimlich führt er sein Gewalt, er ging in meiner armen Gstalt,
Den Teufel wollt er fangen.



Er sprach zu mir: Halt dich an mich, es soll dir jetzt gelingen;
Ich geb mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen;
Denn ich bin dein und du bist mein, und wo ich bleib, da sollst du sein,
Uns soll der Feind nicht scheiden.

 

Hier machen wir einfach Schluss mit Luther. Denn Zoltan Suho hat uns einen Sologesang mitgebracht, der inhaltlich die direkte Reaktion auf Jesu Zusage ist: „Ich bin dein und du bist mein“. Der württembergische Pfarrer Albert Knapp, der sich auch als Sammler alter Kirchenlieder verdient gemacht hat, hat um 1835 gedichtet:

 

Ich bin des Herrn! Wo soll ich anders hin? Mein Jesus nur hat ew`ge Lebensworte.

Hang ich an ihm, blickt meine Seel` auf ihn, so öffnet Gott mir seine Friedenspforte,

und sel`ges Licht umgibt mich nah und fern. Ich bin des Herrn!

Ich bin des Herrn! Er, der die Sünder liebt, tritt vor mein Herz mit seinen Todeswunden,

er, der durch sie nun freie Gnade gibt, der süße König aller Freudenstunden,

will auch mein König sein; das hör ich gern. Ich bin des Herrn!

Ich bin des Herrn! o Liebe, du bist groß, du Trägerin der Gottesmajestäten.

Auf ew`ges Glück gefallen ist mein Los. Dich will ich lieben, preisen und anbeten,

und jauchzen nach dem Tod von Stern zu Stern: Ich bin des Herrn!

 

So kann das vom Euangelion getröstete, von der Kraft der Lutherlieder überzeugte Herz des Glaubens sprechen und singen. Der Komponist des wunderbaren Sololiedes, das Sie jetzt hören dürfen, ist Josef Rheinberger, ein sehr guter Katholik, der mit der Wahl dieses evangelischen Textes und seiner glaubensfrohen Umsetzung in Töne wie selbstverständlich Ökumene praktiziert. Von Gottes „süßer Wundertat“ können wir de facto nur „all in ein“, ökumenisch, „mit Lust und Liebe singen“.

Amen

 

Schlusslied zum Gottesdienst: EG 421 Verleih uns Frieden gnädiglich (M. Luther)



Autor: Universitätsmusikdirektor Prof. Dr. Konrad Klek