Stellvertretung

Predigt an Karfreitag über Lukas 23, 33-49


Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde,

Warum ist Karfreitag ein so wichtiger Feiertag für uns? Es sind ja doch traurige Themen, die heute zur Sprache kommen: zum einen das Leiden und Sterben von Jesus, zum anderen Leid, Sünde und Schuld der Menschen. – Sind wir masochistisch veranlagt, dass wir uns dem aussetzen? Haben wir Freude am Leiden?

Nein, es ist keine Hinwendung zum nur Negativen, keine Lust am Depressiven, sondern im Gegenteil: Wir bedenken heute, dass Jesu Leiden und Sterben etwas mit uns zu tun hat - mit unserem Leid und unserer Schuld – nicht damit wir runtergezogen werden, sondern im Gegenteil, damit wir gestärkt und getröstet werden.

Da ist also auf der einen Seite die Leidensgeschichte von Jesus. Wir haben gerade gehört, wie Jesus am Kreuz stirbt, so wie es der Evangelist Lukas beschreibt. Jeder, der sich etwas in andere einfühlen kann, kann sich seine Schmerzen am Kreuz ansatzweise vorstellen, kann den Spott der Umstehenden und schließlich den Tod Jesu nachempfinden. Freilich könnte  man sagen: Das ist ein schlimmes Schicksal, und das mag dieser Jesus von Nazareth nicht verdient haben, aber was hat das mit mir zu tun?

Da kommt nun das zweite Thema ins Spiel: Das Leiden von Menschen heute, Leid von uns, und Schuld und Sünde von heutigen Menschen, auch von uns. - Beim Leid gibt es die körperlichen Leiden,  - jeder/m von uns fällt da wohl jemand ein, der schwer krank oder sehr eingeschränkt ist, oder Sie sind sogar selbst betroffen. Zum anderen gibt es die seelischen Leiden, die sicher mindestens so schwer zu ertragen sind – auch da kommen Ihnen sicher Beispiele in den Sinn.

Das Thema „Schuld und Sünde“ bedenken wir als Christen nicht, um uns oder anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, sondern weil es nicht gut ist, Schuld einfach verdrängen oder wegdiskutieren kann. Vielleicht kann man Negatives eine Zeit lang unter den Teppich kehren, aber irgendwann kommt es wie ein staubiges Gespenst wieder hervor. Nein, besser als Schuld zu verdrängen oder zu beschönigen, - eigene wie fremde Schuld – ist es, sich mit ihr auseinanderzusetzen.

Und besser als Leid zu verharmlosen, ist es, sich ihm zu stellen und damit umzugehen. Deswegen bedenken wir sowohl Leiden als auch Sünde und Schuld und setzen sie mit unserem Glauben an Jesus in Verbindung, stellen eine Beziehung zwischen ihm und uns her.

 

Schauen wir zunächst auf die Passionsgeschichte Jesu, so wie sie Lukas erzählt. Das Besondere bei Lukas ist, wie Jesus die Schmerzen und den Spott erleidet: seine Haltung ist bewundernswert. Ein Beispiel:

„Vater vergib ihnen…“ Obwohl ihm zutiefst Unrecht getan wird, bittet Jesus für die, die ihn ans Kreuz nageln. - Schuld belastet. Nicht nur die eigene. Auch wenn andere einem Unrecht getan haben. So wie bei Jesus, der zum Tod verurteilt wurde, obwohl er niemanden umgebracht hat, sondern nur ein besonderes Verhältnis zu Gott hatte: Dass er ihn „Vater“ nannte, war ein Ausdruck davon. Diese innigen Beziehung wurde ihm als Gotteslästerung ausgelegt – und dafür war der Tod die Strafe. -  Jesus könnte nun am Kreuz alle die verfluchen, die ihm Unrecht getan haben, die feige waren und ihn im Stich gelassen haben. Doch was macht er? - Er bittet Gott für die Schuldigen um Vergebung. Denn Schuld zu vergeben, macht frei. Er setzt sich mit der Schuld der anderen auseinander, verurteilt sie aber nicht, sondern vergibt ihnen, indem er seinen himmlischen Vater für sie um Vergebung bittet. – Ich denke, auch manchem und mancher hier wurde schon Unrecht getan, auch wir wurden schon ungerecht behandelt. Und oft bekommt man auch keine Entschuldigung. Dieses Gefühl, dass mir Unrecht getan wurde, kann mich belasten, kann an mir nagen, je nachdem wie nachtragend ich bin, umso länger. Wie befreiend ist es da, Jesu „Vaterunser“  zu folgen: „…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“.

Ein weiteres Beispiel für Jesu besondere, ja fürsorgliche Haltung, noch am Kreuz: Dem Übeltäter, der seine eigene Schuld bekennt und andererseits erkennt, dass Jesus nichts Schlimmes getan hat, verspricht Jesus, dass er noch heute mit ihm im Paradies sein werde.

Und schließlich sind seine letzten Worte nach Lukas keine verzweifelten, sondern er betet: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ – Die ganze Zeit, wo Jesus am Kreuz hängt und Schmerzen erduldet, bis zu seinem irdischen Ende, hat er Beziehung zu seinem himmlischen Vater – er vertraut ihm auch im Sterben, vertraut sich ihm ganz an. Dieses Vertrauen auch im Leiden und Sterben, das ist tröstlich; so wünschen wir es uns einst auch für uns und unsere Lieben.

 

Das andere, was an dieser Geschichte tröstet, stärkt und aufbaut, ist der Gedanke, dass Jesus Christus dies auch für uns erlitten hat, sozusagen stellvertretend. „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene, und gebe sein Leben zur Erlösung für viele.“ (Matth. 20, 28). Der Apostel Paulus beschreibt es im Römerbrief so: „Alle haben gesündigt und die Ehre vor Gott verloren und werden gerecht gesprochen ohne Verdienst dank seiner Gnade durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist.“ Und den Korinthern schreibt Paulus: „Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit Gottes würden“. Das sind Sätze, die beschreiben, wie Jesus als Unschuldiger  stellvertretend Schuld auf sich nimmt und damit die, die an ihn glauben, erlöst und rechtfertigt.

Der Theologe und bekannte Fernsehpfarrer Jörg Zink, der vor kurzem gestorben ist, schreibt in seinen Erinnerungen („Sieh nach den Sternen – gib acht auf die Gassen“, S. 127ff.): „Jeder mag mit der Geschichte vom Leiden des Jesus von Nazareth seine eigenen und besonderen Schwierigkeiten haben. Für mich lagen sie zwar im Zeichen des Kreuzes (es war für ihn zunächst nur das Zeichen für einen scheußlichen Justizmord), nicht aber im Gedanken der Stellvertretung. Das geht auf eine bestimmte Erfahrung zurück, sehr am Anfang meiner Beschäftigung mit Jesus. Ich weiß einen jungen Mann, der (…) stellvertretend für mich gestorben ist. Fritz hieß er mit Vornamen.“ Es war am Ende des 2. Weltkrieges, der Unteroffizier Jörg Zink war bei der Fliegerstaffel. „Mach dass du rauskommst“ schrie Fritz durch den Motorenlärm des Flugzeugs dem jungen Jörg im Flugzeug zu. „Es war am Morgen des 6. Juni 1944“ erzählt Zink (…). Ein gleichmäßiges Bullern lag in der Luft. Von der Küste der Normandie her. `Das sind sie!´ Ja, kein Zweifel. Das war die Invasion. – Wir hatten es erwartet, daß die Amerikaner landen würden, und wir wußten, dass wir mit unseren paar Maschinen nichts gegen sie auszurichten hätten.“  Zink beschreibt die  riesige Übermacht der Angreifer, und dass leider keine Wolken da waren, die die 12 Flugzeuge schützen konnten. Nach dem ersten Start waren noch sieben übrig. - „Um elf Uhr war der zweite Start. Der Flugzeugführer, Feldwebel Freiwald, prüfte die Motoren. `Das ist ein Verbrechen´, stieß er heraus. `Mit sieben gegen viertausend!´ Er riskierte seinen Kopf. Denn was man im Cockpit sagte, hörte man in den anderen Maschinen ebenso wie auf dem Tower. Es war ihm gleichgültig. – Er war nicht mein Pilot. Meine eigene Maschine war beschädigt, so sprang ich bei einer anderen Besatzung ein, deren dritter Mann, eben jener Fritz, mit Fieber im Krankenrevier lag. Jeder saß an diesem Tag eben an dem Platz, an dem irgendeiner fehlte. Als wir die Bodenluke schließen wollten, kam Fritz über das Rollfeld gelaufen, mit den Armen rudernd. Der Beobachter ließ noch einmal die Leiter hinunter. `Was ist?´  `Ich will mit´ schrie er von unten in den Motorenlärm hinein. Und da kam er schon herauf, drehte den Kopf zu mir her und schrie: `Das ist meine Besatzung, mach, daß du rauskommst!´ Der Pilot mischte sich ein: `Ist gut. Laß ihn mitfliegen. Mehr als ein-, zweimal starten wir ja doch nicht mehr.´ Er winkte mir mit der Hand, Fritz Platz zu machen, und nickte freundschaftlich, während ich die Geräte und die Waffen übergab und die Maschine, die `Berta´, durch die Bodenluke verließ.

Eine Stunde später waren sie zurück. Von den sieben Maschinen noch vier. Die `Berta´ war nicht dabei. `Was ist mit der Berta?´ schrie ich den ersten an, der sich durch die Bodenluke einer der Maschinen herausquetschte, während die Motoren noch heulten. `Die Berta? Flakvolltreffer.´

So war das also. (..) `Mach, daß du rauskommst´, hatte er gesagt. Und ich blieb am Leben. Er hat nicht gesagt: `Ich will für dich sterben´. Er wollte nur einfach bei seinen Freunden sein, wenn es aufs Letzte ging. Er wußte, was auf ihn zukam, und niemand hätte es ihm übelgenommen, wenn er in seinem Bett geblieben wäre. Aber was eigentlich muß da mitgewirkt haben, daß er aus dem Bett aufsprang (…) und bei der Maschine ankam genau in dem Augenblick, in dem gestartet werden sollte? An dem Platz, an dem ich gesessen hätte, zerriß ihn jedenfalls die Granate.“

Wegen dieser Erfahrung konnte Jörg Zink sich vorstellen, wie er schreibt „was die Bibel meint, wenn sie vom stellvertretenden Sterben des Christus redet. Wenn sie sagt: An deiner Stelle ist Jesus dagewesen, als der Tod kam. Und du lebst. Du hast wieder eine Chance. Du hast die Chance, das Leben zu finden, wenn das mörderische Geschäft dieses Menschenlebens auf der Erde zu Ende ist.“  Wegen dieses Erlebnisses konnte Zink sich mit den Überlegungen des Paulus in Römer 4 anfreunden, „daß Jesus Christus gestorben sei um unserere Sünde willen, das heißt mit der Folge, daß wir unserer Sünde ansichtig würden,  und auferstanden um unserer Gerechtigkeit willen, das heißt mit der Folge, daß mit uns eine Wandlung geschieht.“

 

Liebe Gemeinde, die wenigsten von uns werden eine so existenzielle Erfahrung wie Jörg Zink gemacht haben. Doch dass sich jemand stellvertretend für einen anderen hingibt, das kam und kommt immer wieder vor. Das Besondere bei Jesus nun war, - so beschreiben es die biblischen Texte -, dass er als Gottes Sohn ohne Sünde war. Deshalb hat sein unschuldiger Tod für mich die Kraft, mich aus Schuld, Verzweiflung und Tod zu erlösen.

Was bedeutet also der Karfreitag für uns? – Er bedeutet vor allem dieses „Für uns“: Für uns hat Jesus gelitten, und durch sein Leiden ist er allen Leidenden nahe.

Für uns ist er gestorben, und hat uns durch seinen stellvertretenden Tod Leben geschenkt, erlöst uns von Schuld und Sünde. So können wir um Vergebung bitten – Gott und Menschen – und sie unsererseits gewähren. „Und vergib uns unsre Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ – so beten wir nachher wieder.

Und schließlich: Für uns tritt Jesus – so hoffen wir – dereinst ein.

 

Jörg Zink schreibt noch: „Eins habe ich (…) seitdem gelernt: Daß wir unser ganzes Leben lang auf die angewiesen sind, die für uns etwas tun im Sinne von Stellvertretung. Wenn mich ein Verdacht trifft, ein unberechtigter, erreiche ich gar nichts, wenn ich mich verteidige. Da muß ein anderer hinzukommen, der für mich spricht. (…) Und es ist eine unserer wichtigen Aufgaben, zu merken, wo und wann einer in unserer Nähe ist, der unseres stellvertretenden Eintretens bedarf.“   Soweit Jörg Zink.

Heute denken wir daran, wie Jesus für uns eingetreten ist, und wir sind ihm dafür dankbar. Im Lied, das wir nun singen, heißt es: „Wir danken dir, Herr Jesu Christ, daß du für uns gestorben bist und hast uns durch dein teures Blut gemacht vor Gott gerecht und gut.“ 

Amen. 

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.



Autor: Anne-Kathrin Kapp-Kleineidam