Hoffnung in die Zukunft - Letzter Akademischer Gottesdienst der 7. Reihe

Kirchenrat Pfarrer Manuel Ritter (München)

Kirchenrat Pfarrer Manuel Ritter (München); Foto: Anne-Kathrin Kapp-Kleineidam; Bildquelle: mk - Stadtkirche

Kantatengottesdienst zu Johann Sebastian Bach „Mein Herze schwimmt im Blut“ (BWV 199)


Liebe Gemeinde hier in der Spitalkirche!

 

Zum Jahreswechsel fragte Matthias Drobinski in der Süddeutschen Zeitung: „Was gab es an guten Nachrichten dieses Jahr? Die Fußball-Nationalmannschaft ist Weltmeister geworden… Was sonst an Nachrichten ins Bewusstsein drang, machte selten froh.“ In der Folge zählte er die sattsam bekannten Probleme auf und resumierte: Die Konflikte, Nöte und Ungerechtigkeit der Welt seien 2014 „in den Vorgarten des wohlgeordneten Lebens eingedrungen.“ Wie „unbefugte Besucher“ hätten sie dort „die Blumenrabatte der Selbstgewissheit zertreten.“ Der Boden sei schwankend geworden, auf den sich bei uns Frieden, Wohlstand und Demokratie gründen.
Die Predigtreihe „Mit Hoffnung in die Zukunft“, die heute mit diesem Kantatengottesdienst zu ihrem Abschluss kommt, hat Beispiele gravierender Herausforderungen für jede Zukunftshoffnung vor Augen geführt: Einmal den Klimawandel mit der drängenden Frage nach einer Klimagerechtigkeit, die eine radikale Umkehr von gewohnten Bequemlichkeiten und Lebensstandards erfordert. – Zum andern die näher rückenden Kriege in Nahost, in der Ukraine und in Afrika: Denn sie berauben uns der - lange Zeit so bequemen - Rolle von Fernsehzuschauern und zwingen uns hinein in die Rolle von Parteinehmern in diesen Konflikten. Plötzlich sind wir angefragt als hoffentlich verantwortlich agierende Partner. – Schließlich die rapide fortschreitenden Volkskrankheiten, Seuchen und Epidemien, die sich aller medizinischen Fortschritte bei uns zum Trotz aber weltweit weiter krebsgeschwürartig auszubreiten scheinen.
Und anders als vielleicht noch vor wenigen Jahren können wir heute unseren Kindern nicht mehr guten Gewissens versprechen, dass sie es bestimmt einmal besser haben werden als wir. Im Gegenteil: Längst steht zu erwarten, dass hierzu äußerst kritische Fragen an uns gerichtet werden: Warum wir nicht geholfen hätten, zu verhindern oder zumindest etwas gegenzusteuern, wo wir doch alles längst gewusst hätten?
All das schürt Sorgen und Ängste und zertritt die „Blumenrabatte der Selbstgewissheit“. Dabei ahnten wir ja längst, dass unsere „Selbstgewissheit“ als Quelle einer Hoffnung in die Zukunft absehbar versiegen würde…
Wie soll man da die „Kurve“ kriegen hin zu dem, was uns als Christen doch allezeit aufgegeben ist: „Fröhlich zu sein in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet“ – wie es der Apostel Paulus im Römerbrief Kap. 12 – unserer heutigen Lesung - ausgedrückt hat? Und was um Himmels willen hat diese Kantate mit Hoffnung zu tun?

 

Beim Lesen des Kantatentextes wirken die Begriffe schon erdrückend: Blut – Sünden Brut – Ungeheuer – Pein – Höllenhenker – Lasternacht – Not – unerhörter Schmerz – ausgedorrtes Herz… Mit Hoffnung in die Zukunft? Ich gebe ehrlich zu, anfangs den Verdacht gehabt zu haben, als wolle die Kantate mein Bemühen, Hoffnung zu verbreiten, eher konterkarieren als befördern: „Mein Herze schwimmt im Blut“…
Zumal die Musik in ihren Möglichkeiten der Predigt ja ohnehin weit überlegen ist, weil sie Gefühle in einer tieferen Ebene anzusprechen vermag als die Predigt. Zu Recht wird die Kirchenmusik darum als eine eigenständige Form evangelischer Verkündigung gesehen und wertgeschätzt. Denn sie vermag
nicht nur Gefühle des Menschen auszudrücken, wo Worte zur Beschreibung fehlen, sondern sie kann den Menschen auch auf einen Hoffnungsweg mitnehmen, wo der Horizont noch verstellt ist. Unsere Kantate wird es in der zweiten Hälfte nachher deutlich zeigen. Freuen Sie sich schon mal und hoffen Sie mit – mit unseren Musikern! Deshalb dachte ich mir, die Kantate vielleicht als Verbündeten der Hoffnung zu gewinnen.
Immer wieder las ich den Text der Kantate. Ausladend und in barock-geschnörkelter Sprache schildert sie den vom Sünden- und Schuldbewusstsein geplagten Menschen und weist den Weg zu Reue und Vergebung. Ob da vielleicht ein Schlüssel auch zur Hoffnung liegt?
Gewiss, jeder von uns hat es schon erfahren: Wenn es einmal gelingt, im Miteinander Schuld freimütig auszusprechen und klar und ungeschminkt zu benennen; und wenn dies dann passgenau auf eine ausgestreckte Hand und ein Wort ehrlicher Verzeihung trifft – nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe: Da tun sich ganz neue Räume auf im Miteinander. Da blühen Hoffnungsknospen wie unter Raureif auf! Da wird möglich, was bisher undenkbar schien. Solche Hoffnungsgeschichten gibt es unzählige, und sie sollten immer neu erzählt werden. Weil sie wirklich Hoffnung stiften!


Freilich: Was im Miteinander einzelner Menschen immer wieder befreiend und beglückend geschieht und neue Zukunft eröffnet, das scheint im Miteinander von gesellschaftlichen Gruppen, Völkern, Rassen und Religionen kaum je zu gelingen. Entsprechende Utopien haben in der Geschichte immer wieder eher zum Gegenteil des Erwarteten und Erhofften geführt! Und überhaupt: Was sollte das Thema „Reue und Vergebung“ ausrichten bei den globalen Herausforderungen, von denen wir eingangs sprachen? Wer sollte hier wem Vergebung erteilen?
Am Ende klopfen wir uns noch gegenseitig auf die Schultern und ermutigen uns wie manche konservative US-Kongress-Abgeordnete, dass am Ende bestimmt alles doch nicht so schlimm kommen würde. Oder wir vertrösten uns mit manchen Choralstrophen von einem problematischen Diesseits in ein besseres Jenseits? Das wäre dann aber nichts anderes als eine Rückkehr zu den zertretenen Blumenrabatten der Selbstgewissheit -- im Irrglauben, die Blumen kämen irgendwann schon wieder, hier oder eben dort...


Also lieber zur Kantate. Bestimmte, der geschnörkelt-barocken Sprache geschuldete Schichten schälte ich für mich ab. Unsere heutigen quälenden Zukunftsfragen sind da freilich noch nicht im Blick. Doch ich sehe hier den Menschen aller Zeiten in all seiner Verunsicherung, hin und hergerissen zwischen Selbstbehauptung und Schuld, und brutal konfrontiert mit den ausweglosen Folgen seines Fehlverhaltens. All das wird mit Auswirkungen bis ganz hinein ins Körperliche besungen und beschrieben – wie wir ja heute längst entdeckt haben, dass Folgen von Klimawandel, ökologischen Katastrophen, von Krankheiten und Kriegsgeschehen bis hinein in unsere vorfindlichen individuellen Biographien wirken können. Sie hinterlassen Wunden und Narben auch noch in der innersten Zone der Blumenrabatten unserer Selbstgewissheit… --
Vereinzelt begannen dann doch ein paar winzig-kleine Hoffnungsschimmer aufzuleuchten: Etwa die Bereitschaft des Menschen, eigene Fehler und Versagen einmal nicht routiniert wegzudrücken und anderen in die Schuhe zu schieben, sondern sich offen dazu zu stellen mit allen Konsequenzen! Dann die noch ganz vorsichtig tastende Vergewisserung: „Gott muss mir (doch) gnädig sein“. Und schließlich die vertrauensvolle Bitte: „Habe doch Geduld mit mir“. In der Kantate am Ende des vierten Satzes zart wie ein scheues Liebesbekenntnis.
Denn diese Bitte rechnet mit einem Gott, der über alles menschliche Urteilen und Verstehen hinweg verzeihen, annehmen, lieben und aus selbstgewählten Sackgassen führen kann. Musikalisch höre ich das in dem allmählichen Überhandnehmen der Dur-Klänge in der Musik des dritten Satzes, der ja vom
Text her noch ganz dunkel eingefärbt ist. Im vierten Satz findet sie eine zuversichtliche Fortsetzung – ein Glaube, der wie ein Vogel singt, während es doch noch dunkel ist. Das ist der Glaube der Epiphaniaszeit: Licht mitten im Dunkel aufzuspüren.
Und geradezu überwältigend hebt sich die hoffnungsvolle Freude dann in den folgenden Sätzen empor und erreicht eine für mich geradezu nach Mozart klingende Leichtigkeit! „In dir ist Freude in allem Leide…“.
Dann entdeckte ich, dass J.S. Bach diese Kantate im Jahre 1714 komponiert hat – also vor 300 Jahren, und zwar zum 11. Sonntag nach Trinitatis. Als Textgrundlage für seine Kantate verwendete Bach u.a. die damals sehr bekannte Sammlung mit dem Titel „Gottgefälliges Kirchen-Opfer“. Sie enthielt Nachdichtungen u.a. zu den Sonntagslesungen. Gewiss hatte der Dichter dieser Sammlung und damit unseres Kantatentextes, Georg Christian Lehm, konkret das Sonntagsevangelium des 11. Sonntags nach Trinitatis vor Augen; schon vor 300 Jahren war es das bekannte Gleichnis vom „Pharisäer und Zöllner“ aus Lukas 18.
Im Text der Kantate blitzen einzelne Zitate aus diesem Gleichnis wortwörtlich auf, etwa die Bitte „Gott sei mir Sünder gnädig!“ Das ist das rückhaltlose Bekenntnis zur eigenen Schuld, zu eigenen Defiziten und Versäumnissen.
Diese Aussage des Zöllners hat für sich genommen freilich auch noch nicht viel mit Hoffnung zu tun. Doch immerhin hat sich dieses Bibelwort erhalten bis in unsere heutige gottesdienstliche Gegenwart. Denn regelmäßig im Eingangsteil des agendarischen Gottesdienstes spricht der Liturg oder die Liturgin mit dem Zöllner aus dem Gleichnis: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Und die Gemeinde bittet daraufhin: „Der allmächtige Gott erbarme sich unser, er vergebe uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben.“ – Daraufhin bekommen Gemeinde und Liturg die Vergebungszusage zugesprochen.
Ein Vertrauensmann aus einer Gemeinde, in der ich tätig war, von Beruf Geschäftsmann, nannte diesen Teil des Gottesdienstes die „Geschäftsgrundlage“ zwischen Gott und Mensch. Diese seltsame „Geschäftsgrundlage“ sieht also so aus, dass der Mensch zu seinen Versäumnissen, Fehlern, seiner Schuld und Sünde stehen darf. Dies allein schon klingt in einer sich so gerne fehlerlos gerierenden Gesellschaft hoffnungsvoll! Und mehr noch muss verwundern: Dass Gott den fehlerhaften, seiner eigenen Zukunft immer wieder im Wege stehenden Menschen wider alle Erwartung nicht verwirft, enterbt oder exkommuniziert, sondern ihm um Christi willen vergibt und damit einen Neuanfang eröffnet!

 

Liebe Gemeinde, das, was so oder ähnlich in jedem Gottesdienst geschieht, ist doch nicht nur irgendein rituelles Relikt einer altmodischen Liturgie! In dieser „Geschäftsgrundlage“ liegt ein ungeheures Hoffnungs-Potential bereit liegen! Die Frage ist: Liegt es brach oder nutzen wir es? Denn Gott eröffnet uns Neuanfänge, jeden Tag neu. Jeden Tag neu kann also die Zukunft anders werden, weil die Gegenwart auf eine neue Grundlage gestellt ist:
Von Gottes vergebendem, neue Horizonte öffnenden Wort her. Freilich haben wir in unserer Tradition dieses Zukunft eröffnende Wort Gottes meist verengt bezogen auf das persönliche Leben des Einzelnen. Als ginge es immer nur „um Gott und mich und mein kleines Seelenheil“. Dabei heißt es doch im Wortlaut: „er vergebe uns unsere Sünde“…! Das schließt also die weltweiten Sorgen und das globale Versagen mit ein.
Wir könnten die Zusage Gottes neu verstehen lernen als hoffnungsstiftende Größe; als Ermutigung für uns, um gemeinsam verantwortliche Schritte in die Zukunft zu wagen. Angesichts ökologischer Bedrohung, Friedlosigkeit und Krankheiten das anzupacken, was an uns liegt!
Der Apostel Paulus sagt: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet“. Liebe Gemeinde! Das ist unsere Ausrüstung auf dem Weg in die Zukunft. Uns immer neu von Gott zur Hoffnung anstiften zu lassen – allem zum Trotz, was dagegen sprechen mag. Zugleich in Problemen auszuhalten und standzuhalten, wenn es nicht anders geht. Immer wieder bedarf es dazu – wie in der Kantate – der Erinnerung an Trostbilder und Trostworte aus Bibel und Gesangbuch, die uns anvertraut sind: Damit wir überhaupt erst Visionen entwickeln und Freude und Hoffnung auch singend einüben können.
Vielleicht vermögen wir Christen viel mehr in der Welt zu ändern, wenn wir dies fröhlich-zuversichtlich tun, singend, betend, solidarisch ausharrend, als wenn wir mit griesgrämigen Gesichtern Weltverbesserungsmodelle propagieren?
Zuletzt: Wir sollten wir uns nicht ständig überfordern! Wir sollten nicht alles, was die Welt doch nicht geben kann, immer von uns allein erwarten! Wir sollten Gott deshalb in den Ohren liegen und ihn immer wieder bei seinen großen Verheißungen behaften, wie es uns auch die Psalmen zeigen.
Also beharrlich im Gebet zu bleiben, geduldig in Trübsal, fröhlich in Hoffnung.
Vor 70 J. dichtete Dietrich Bonhoeffer angesichts von Krieg, Zerstörung und das eigene Ende vor Augen: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Amen.



Autor: Kirchenrat Pfarrer Manuel Ritter