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Markuspassion zur Eröffnung des Osterfestivals

Eine Rezension von Sönke Remmert


Bild: Klaus Maisel

Johann Sebastian Bachs Passionen nach Johannes und Matthäus zählen zu den populärsten und großartigsten Werken der geistlichen Musik, ja, der Musikgeschichte überhaupt. Dass eine dritte Passion des berühmten Leipziger Thomaskantors nur als Textdruck, nicht aber als Musik erhalten ist, wird deshalb seit jeher bedauert. Es ist verständlich, dass sich die Nachwelt seit über 100 Jahren immer wieder an Rekonstruktionen versuchte. Eine Annäherung des Hamburger Kirchenmusikers Andreas Fischer war am Karfreitag, dem 30.03.2018, in der Bayreuther Stadtkirche bei der Eröffnung des Bayreuther Osterfestivals zu erleben. Die interpretatorische Leistung war großartig. Die Problematik des Werks erfordert aber, bei einer Rezension hierüber im Vordergrund zu stehen.

So ist es – dem Versmaß nach – sehr wahrscheinlich, dass Bach für den Eröffnungs- und den Schlusschor des Werkes und für mehrere Arien Musik wiederverwendete, die er in der „Trauerode“ auf den Tod der Fürstin Christiane Eberhardine von Sachsen (BWV 198) erstmalig verwendete. Die Musik der Arie „Falsche Welt, dein schmeichelnd Küssen“ stammt im Original höchstwahrscheinlich aus der Kantate BWV 54 „Widerstehe doch der Sünde“. Diese Quellen verwendete auch Andreas Fischer in seiner Rekonstruktion – und sie überzeugten in der Bayreuther Aufführung sehr. Gerade eine Trauerkantate auf den Tod einer Fürstin weist ja auch inhaltliche Parallelen zu einer Passionsmusik auf. Dass zudem der Eröffnungschor „Geh, Jesu, geh zu deiner Pein“ mit dem charakteristischen Rhythmus der Französischen Ouvertüre anhebt, passt zudem sehr gut zur Vorstellung, dass Jesus Christus als König verehrt wird – ähnlich wie in Bachs eigener Kantate „Nun komm der Heiden Heiland“ BWV 61. Perfekt in den Passionszusammenhang passt auch die Arie „Mein Tröster ist nicht mehr bei mir“, deren gleichfalls aus der „Trauerode“ entnommene Musik an das „Crucifixus“ in der H-Moll-Messe gemahnt. Gleichfalls absolut überzeugend sind die in der Aufführung verwendeten originalen Choräle J. S. Bachs. Sie stammen aus Sammlungen, die Bachs Sohn Carl Philipp hinterließ – und mit großer Wahrscheinlichkeit verwendete sie der Thomaskantor in der Markuspassion.

Ein größeres Problem stellt jedoch die Suche nach passendem Rezitativmaterial für die Evangelienworte in Bachs Musik dar. Zwar ist das Rezitativ auf den ersten Blick eine nüchterne, empfindungsneutrale Form. Gerade die Matthäus- und die Johannespassion zeigen jedoch eindrucksvoll, wie Bach diese scheinbar emotionslose Gattung mit Leben erfüllen konnte. Zwar hat Andreas Fischer an manchen Stellen genial passende Rezitativ-Ausschnitte im Kantatenwerk Bachs gefunden: Etwa einen Satz der Kantate BWV 112 für die dramatischen Jesus-Worte „Ihr seid ausgegangen als zu einem Mörder“ in der Nr. 20b. Die meisten für die Bearbeitung ausgewählten Rezitative muten jedoch recht künstlich und gewollt an – abgesehen davon, dass die bei Bach selbst so genialen Querverbindungen zu anderen Sätzen des Werkes völlig fehlen, wie man sie etwa in den Abendmahls-Einsetzungsworten in der Matthäus-Passion beobachten kann, wo die Streicher-Gloriole die Melodie der folgenden Arie „Ich will dir mein Herze schenken“ vorwegzunehmen scheint.

Als größtes Problemfeld der gesamten Rekonstruktion entpuppen sich die Turba-Chöre, also die Spottchöre der Volksmassen. Fischer verwendet hier Chorpassagen aus dem Kantatenwerk, aber auch aus dem Magnificat Bachs – und scheitert dabei vollends. Bachs Turba-Chöre weisen in ihrem Spott, ihrer Schärfe und ihrer lakonischen Kürze eine ganz besondere Stimmung auf, die wir so wirklich nur in den Turba-Chören finden. Fischers Turbae erreichen weder die Schärfe noch die Kürze von Bachs Volksmassen-Chöre auch nur ansatzweise. Solche Höhepunkte wie das „Sei gegrüßet, lieber Jüdenkönig“ in der Johannespassion (das sogar die Arie „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“ aus dem gleichen Werk zitiert) oder den außerordentlich dissonanten „Barrabam“-Ruf der Matthäuspassion sucht man hier absolut vergeblich.

Unser Fazit: Die Musik der „Trauerode“ ist großartige Bach-Musik, deren originale Texte uns heute nichts mehr sagen. Rekonstruktionen der Markuspassionen können dazu beitragen, diese Musik durch die überzeitlichen geistlichen Texte für unsere Aufführungspraxis zu erhalten. Die verwendeten Choräle Bachs über die in der Passion eingeschobenen Kirchenlieder sind überzeugend. So wenig wie Rudolf Kelber mit Anleihen aus R. Keisers Markuspassion oder Ton Koopman mit seinen Bach-Puzzleteilen gelingt es aber Andreas Fischer, überzeugende Lösungen für die Rezitative zu finden. Solange keine musikalischen Quellen der Markuspassion auftauchen, besteht die angemessenste Lösung darin, diejenigen Arien, die einer Bachschen Originalmusik zuzuordnen sind, aufzuführen und die Evangeliumstexte von einem Sprecher oder Lektor lesen zu lassen, so wie dies in der 1997 auf CD erschienenen Aufnahme unter der Leitung von Peter Schreier geschehen ist. Angemessen kann auch die Option sein, den biblischen Bericht bewusst nicht im barocken Stil, sondern kontrastierend in moderner oder postmoderner Tonsprache zu vertonen. Hörenswerte Barockpassionen jenseits von Bachs Matthäus- und Johannespassion gibt es reichlich: Etwa bei G. Ph. Telemann, bei G. A. Homilius oder bei dem Rudolstädter G. Gebel.

Dies nimmt den in Bayreuth aufgetretenen Künstlern nichts von ihren Qualitäten: Michael Zabanoff (Tenor) gab einen eindringlichen aber dezenten Evangelisten. Tobias H. Freund (Bass) wirkte mit seinen Jesusworten wunderbar präsent und textverständlich. Auch Radoslava Vorgic (Sopran), Alexandra Hebart (Alt) und Alban Lenzen (Bass) waren in ihren Arien-Partien grandios. Die Neue Nürnberger Ratsmusik beherrschte ihre historischen Instrumente herrlich tonsauber. Die Stadtkantorei Bayreuth unter der Leitung von Michael Dorn war im Zusammenklang und in der Intonation, aber auch in der Textverständlichkeit auf gewohnt hohem Niveau.